Die Notwendigkeit des Wandels
Globale Gefahren
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Henning Riecke erörtert die Notwendigkeit von Veränderungen in internationalen Organisationen und vertritt die Ansicht, dass die Umgestaltung der NATO ein tragfähiges politisches Fundament haben muss.
Als Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februarauf der diesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz zu Protokollgeben ließ, die NATO sei nicht mehr der „primäre Ort“ für dieErörterung und Koordinierung von Strategien der transatlantischenPartner, konstatierte er lediglich eine offensichtliche Tatsache.Am beunruhigendsten ist jedoch, dass es keinen anderen derartigenOrt gibt. Dieses Dilemma des Bündnisses, auf das Gerhard Schröderhinweisen wollte, erklärt sich daher, dass die NATO imSicherheitsbereich teilweise auf der Herbeiführung eines Konsenseszwischen Europa und Nordamerika beruht, und er meinte nun, die NATOmüsse ihre Arbeit besser machen. Gerhard Schröder schlug dieEinrichtung eines hochrangigen Gremiums vor, das Möglichkeiten zurVerbesserung der transatlantischen Beziehungen u.a. mit dem Zielerörtern sollte, im Bündnis wieder eine Kultur des strategischenDialogs herbeizuführen. Um dies zu erreichen, muss sich die NATOanpassen.
Das Bündnis ist natürlich nicht die einzige internationaleInstitution, die sich dem veränderlichen, komplexenSicherheitsumfeld der heutigen Zeit anpassen muss. Sowohl dieEuropäische Union als auch die Vereinten Nationen müssen ebensoehrgeizige Reformanstrengungen unternehmen, wenn auch sie mit derZeit gehen und zum Aufbau einer stabileren Welt beitragen wollen.Es ist auch nicht das erste Mal, dass die NATO in einer derartigenLage ist. Eigentlich kann man kaum sagen, wann das Bündnis einmalnicht damit befasst war, sich von Grund auf zu erneuern.
Obwohl die NATO in den letzten Jahren häufig von ihren Kritikernwie auch von ihren Anhängern als irrelevant oder todgeweihtabgeschrieben worden ist, hat sie die Anpassung an neueHerausforderungen gewissermaßen zu einer ihrer Spezialitätengemacht. Trotzdem war es nicht immer leicht, die nötigenVeränderungen vorzunehmen. So war dieser Prozess des Wandels in derMehrzahl der Fälle durch Frustration, Spannungen und langwierigeKonsultationen gekennzeichnet, so dass die NATO gelegentlich eherwie eine Brutstätte innerer Streitigkeiten erschien und weniger denEindruck einer Institution erweckte, die auf Konsens ausgerichtetist. Gleichviel wie bitter die Diskussionen, die dann letztlich zueinem Konsens führten, auch gewesen sein mögen, war die Anpassungjedoch von entscheidender Bedeutung – sowohl für die erfolgreicheWeiterentwicklung der NATO als auch für die Wahrung der Stabilitätinsgesamt. Überdies führt die NATO derzeit einen äußerstdynamischen Prozess der militärischen Umgestaltung durch. Warumerscheint die NATO dann auf politischer Ebene als sogespalten?
Will man den Anpassungsmechanismus der NATO verstehen, so muss manuntersuchen, welche Kräfte den Zusammenhalt des Bündnissesgewährleisten. Gelegentlich werden bei einer Veränderung desSicherheitsumfelds unweigerlich einige Fragen laut, und zwarhinsichtlich der gemeinsamen Beurteilung von Gefahren, desgemeinsamen Interesses an der Aufrechterhaltung der amerikanischenPräsenz in Europa und hinsichtlich der gemeinsamen Werte insgesamt.Dies galt beispielsweise in hohem Maße in den 60er Jahren desvorigen Jahrhunderts, als die Vereinigten Staaten wegen derEntwicklung sowjetischer Interkontinentalraketen zum ersten Malverwundbar wurden. Damals reagierte das Bündnis, indem es imHinblick auf seine strategische Doktrin von der massiven Vergeltungzur flexiblen Reaktion überging und nach der Verabschiedung desHarmel-Berichts (1967) die künftigen Ziele des Bündnisses neubestimmte, so dass sowohl die Gewährleistung der Abschreckung alsauch die Förderung der Entspannung eine Rolle spielten.
Somit wirkt sich die Anpassung nicht nur auf das dem Bündnis zurVerfügung stehende Instrumentarium aus, sondern auch auf den Zweckder NATO insgesamt sowie auf die Regeln der Zusammenarbeit. Da nachdem Ende des Kalten Krieges nicht-traditionelle Gefahren aufkamen,sind Verhandlungen über eine gemeinsame Einschätzung derSicherheitslage schwierig geworden. Zugleich haben die Reaktionenauf diese Gefahren jedoch größere Offenheit und Flexibilitäthinsichtlich der strategischen Planung erfordert, damit das Bündnisauf ein breiteres Gefahrenspektrum vorbereitet werden konnte.
Globale Gefahren
Die globalen Sicherheitsgefahren der heutigen Zeit weisen zweiBesonderheiten auf, die eine wirksame Anwendung im Vorauskonzipierter Instrumentarien erschweren. Erstens ergeben sichnicht-traditionelle Gefahren eher aus gesellschaftlichenEntwicklungen als aus Entscheidungen von Regierungen, so dass dieStrategen gezwungen sind, traditionelle Instrumente wiemilitärische Interventionen und Abschreckungsmaßnahmen einererneuten Prüfung zu unterziehen. Zweitens ist Ungewissheit einentscheidendes Kennzeichen der heutigen Sicherheitspolitik, denndie Motive, Absichten und Fähigkeiten nichtstaatlicher Gegner sindhäufig nicht bekannt. Zudem ist es äußerst schwierig, zu berechnen,wie sich Ereignisse und Maßnahmen auf der einen Erdhalbkugel aufdie Sicherheit der anderen Hälfte auswirken werden, so dass eineÜberschätzung der Gefahr mindestens ebenso wahrscheinlich ist wieeine Unterschätzung.
Angesichts dieser Unwägbarkeiten mussten die NATO-MitgliederStreitkräfte entwickeln, die rasch an jeden Ort verlegt werdenkönnen, an dem sie erforderlich sind. Gleichzeitig haben dieBündnispartner versucht, den Grad der Ungewissheit zu verringern,indem sie dazu beitrugen, in Krisenregionen politische Stabilitätund Transparenz herbeizuführen. An dieser Doppelstrategie hat sichder Anpassungsprozess ausgerichtet, den die NATO – wenn auchzögernd – seit dem Ende des Kalten Krieges durchgeführt hat und indem man drei Elemente mit je ihren eigenen Motiven und treibendenKräften erkennen kann.
Das erste Element besteht im Aufbau vonSicherheitspartnerschaften, mit denen die Zone der Stabilitätinnerhalb Europas erweitert werden sollte. Als Reaktion auf dasdurch die Auflösung des Warschauer Paktes entstandene Vakuum botdie NATO früheren Gegnern Kooperationsstrukturen an, darunter dannauch einen Mechanismus für den Bündnisbeitritt, um sie in einePartnerschaft einzubinden und die Streitkräfte der Partnerstaatenin Operationen zur Bewältigung von Krisen in Europa einzubeziehen.Das zweite Element bezieht sich auf die zunehmende Bereitschaft derNATO, im Rahmen von Krisenbewältigungs- undStabilisierungsmaßnahmen Gewalt anzuwenden – zunächst auf demBalkan, nun in Zentralasien. Da das Bündnis als eine Organisationgegründet worden ist, die sich auf die Aufrechterhaltung derSicherheit Europas konzentrieren sollte, führte eine Ausweitung desSpektrums und der geographischen Reichweite der NATO-Operationengelegentlich zu Kontroversen, so dass einige Mitglieder versuchten,den Prozess zu behindern.
Das dritte Element geht auf die 90er Jahre des vorigenJahrhunderts zurück, als die für den Kalten Krieg konzipiertenStreitkräfte umstrukturiert wurden, und hat sich inzwischen zu demehrgeizigen Programm der heutigen Streitkräfteumgestaltungentwickelt. Die militärischen Erfordernisse der neuenBündnisoperationen bedeuten, dass die ursprünglichen Reformen unterDruck geraten sind. Folglich zählen Prinzipien wie Flexibilität,Verlegefähigkeit, Durchhaltefähigkeit, technologischeÜberlegenheit, Effizienz und vor allem Interoperabilität zu denEcksteinen des Bündnisses und seiner Relevanz alsSicherheitsorganisation.
Militärische Umgestaltung
Auf diesem Gebiet fungieren die Vereinigten Staaten de facto alspolitischer Unternehmer, der die Entwicklung vorantreibt. Somitberuht die militärische Umgestaltung der NATO im Wesentlichendarauf, dass die Vereinigten Staaten die Innovationen hinsichtlichder Technologien, Doktrinen und Strukturen, d.h. ihre Revolution immilitärischen Sektor, mit der sie ihre Möglichkeiten zurDurchführung militärischer Operationen grundlegend verändert haben,an die übrigen NATO-Staaten weitergeben. Dieser Prozess gewannwährend der ersten Amtszeit George W. Bushs an Dynamik und kann alsMöglichkeit zur Entwicklung interoperabler Streitkräfte fürgemeinsam mit einigen anderen Staaten durchzuführende Operationenbetrachtet werden; somit wird sichergestellt, dass Streitkräfte vonNATO-Partnern in Zukunft angemessen für gemeinsame Operationen mitamerikanischen Streitkräften ausgerüstet sind.
Die militärische Umgestaltung ist ein dynamischer Prozess, bei demdas Ende nicht absehbar ist und der sich auf Soldaten, derenAusrüstung und Technologie sowie auf Strukturen und Prinzipienauswirkt, an denen sich die Dislozierung von Streitkräften und dieDurchführung militärischer Operationen ausrichten. Auf diese Weisebeaufsichtigt die NATO nicht nur die Umgestaltung der Streitkräfteihrer einzelnen Mitgliedstaaten, sondern unterliegt selbst einemProzess des Wandels.
Am deutlichsten kam die militärische Umgestaltung der NATO in derErrichtung des Alliierten Kommandos für Fragen der Umgestaltung inNorfolk (Virginia, USA) und im Aufbau der NATO-Reaktionskräfte (NRF– NATO Response Force) zum Ausdruck. Die NRF stehen nun imMittelpunkt der Bemühungen um die Umgestaltung der Streitkräfte;mit ihrer Hilfe werden neue Technologien, Doktrinen und Verfahrenerprobt. Da die Streitkräftekontingente regelmäßig und relativhäufig abgelöst werden, können die in ihre eigenen Staatenzurückkehrenden Kontingente schnell Erfahrungen und Fertigkeiten,die sie im Rahmen der NRF gewonnen haben, in ihre nationalenStreitkräfte einbringen. Da die NRF überwiegend aus Europäernbestehen, dienen sie auch als Instrument zur Förderung einereinheitlicheren Beschaffungspolitik innerhalb Europas. DieUmgestaltung ist zweifellos nicht mehr lediglich einer von vielenPunkten auf der Tagesordnung der NATO, sondern hat sich zu einemWesensmerkmal des heutigen Bündnisses entwickelt.
Die Umgestaltung an sich ist jedoch kein ausreichend überzeugenderGrund für den Zusammenhalt der Bündnispartner und die Einheit derNATO. In einer sich ändernden Welt erfordert der Zusammenhalt einesBündnisses eine eher grundlegende Übereinstimmung hinsichtlich derArt der Sicherheitsgefahren und der Strategien zu derenBewältigung. Doch obwohl die meisten Beobachter das StrategischeKonzept des Bündnisses von 1999 (das vereinbarte Dokument, in demdas strategische Umfeld und die Möglichkeiten des Bündnisses zurBewältigung der Herausforderungen analysiert werden) für veraltethalten, haben die transatlantischen Streitigkeiten der letztenbeiden Jahre die Chancen für eine Aktualisierung des Konzeptszunichte gemacht. Es ist somit wirklich aufschlussreich, dass dasDokument The Strategic Vision, das die strategischenGrundlagen für den Umgestaltungsprozess darlegt, kein offiziellvereinbartes Bündnisdokument ist, sondern eine Veröffentlichung derObersten Alliierten Befehlshaber; der Oberste AlliierteBefehlshaber Europa, General James L. Jones, und der ObersteAlliierte Befehlshabers für Fragen der Umgestaltung, Admiral EdmundP. Giambastiani, haben dieses Dokument unterzeichnet.
Wie bereits gesagt, ist die NATO nicht die einzigereformbedürftige Sicherheitsorganisation. Zwei weitereOrganisationen mit engen Beziehungen zum Bündnis haben sichebenfalls entsprechend den Veränderungen des Sicherheitsumfeldsangepasst, jedoch mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die rascheEntwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik(ESVP) hat dazu beigetragen, der Europäischen Union eine eigeneSicherheitsidentität zu verleihen. Im Gegensatz dazu drohen dasgeringe Tempo und die administrative Schwerfälligkeit der Reformender Vereinten Nationen die rechtlichen Grundlagen internationalerStabilisierungsbemühungen zu untergraben. Angesichts derWechselbeziehungen zwischen der NATO und diesen beidenOrganisationen lohnt es sich, die dortigen Reformprozesse genauerzu untersuchen.
Die Entwicklung der EU
Die Europäische Union hat die ESVP als wichtiges Element ihrerAußenpolitik entwickelt, um so der wirtschaftlichen Macht, über diesie bereits verfügt, militärischen Nachdruck verleihen zu können.Mit dem Ziel, den Ursachen von Gefahren wie denen aufgrund desExtremismus, der Migrationsbewegungen und des organisiertenVerbrechens entgegenzutreten, hatte sich die Europäische Union zurFörderung der Stabilität anderer Staaten lange Zeit aufnichtmilitärische Instrumente konzentriert. Das militärischeElement der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik trägt nun zueinem ausgewogeneren Ansatz sowie dazu bei, dass der EU-Politik einbreiteres Spektrum von Optionen zur Verfügung steht, auch wenn sichdie Europäische Union nur langsam an den Gedanken gewöhnt, einmilitärischer Akteur zu sein.
Obwohl die NATO im Laufe der Jahre häufigals irrelevant abgeschrieben worden ist, hat sie die Anpassung anneue Herausforderungen gewissermaßen zu einer ihrer Spezialitätengemacht.
Die EU-Sicherheitsstrategie von 2003, dievom Sekretariat des Rates erarbeitet und ausgehandelt wurde, hatder EU-internen Sicherheitsdebatte neue Dynamik verliehen. DasDokument ist sowohl ein Kompromiss, der unterschiedlicheStandpunkte zur Legitimität der Anwendung von Gewalt miteinandervereinbart, als auch eine provokative Aufforderung zum Handeln,denn gefordert werden ein häufigeres und früheres Eingreifen derEuropäer sowie verstärkte Bemühungen mit dem Ziel, die Kohärenz deraußenpolitischen Instrumente Europas zu verbessern. Diese neuenAnsätze werden nun sowohl in Bosnien und Herzegowina als auchandernorts erprobt. Zudem hat man im Rahmen der Verhandlungen überdie Verfassung der EU zahlreiche Kohärenzprobleme lösen können.Selbst wenn die Verfassung nicht ratifiziert werden sollte, würdensomit viele dieser Initiativen überleben, darunter die Gründungeiner Europäischen Verteidigungsagentur zur Koordinierung derWehrbeschaffungsprogramme.
Infolge der Operationen im ehemaligen Jugoslawien arbeiten dieEuropäische Union und die NATO im Einklang mit den„Berlin-Plus-Regelungen“, die der EU Zugang zu NATO-Mitteln geben,immer effizienter zusammen. Trotz dieser praktischen Zusammenarbeitprognostizieren zahlreiche Experten, dass sich die beidenInstitutionen zu Konkurrenten entwickeln könnten. Viele Europäerglauben, dass die Palette mehrdimensionaler Instrumente, die siefür die EU-Außenpolitik anstreben, geeignetere Mittel zurBekämpfung moderner Sicherheitsgefahren bietet als jeder Ansatz,der sich auf militärische Gewalt stützt. Trotzdem unterscheidetsich der strategische Konsens innerhalb EU wirklich kaum von deminnerhalb der NATO. Überdies wollen nur sehr wenige EU-Mitgliederaus der EU ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten machen. Diemeisten EU-Mitglieder wollen einfach, dass Europa stärker wird,damit es attraktiver werden und sich so zu einem einflussreicherenPartner der Vereinigten Staaten entwickeln kann. Die Motive für dieESVP mögen zwar unterschiedlicher Art sein, aber dieGrundüberzeugungen, auf die sie sich stützt, sind stark genug, umden Prozess voranzutreiben.
Die Reform der VN
Der Reformprozess im Rahmen der Vereinten Nationen ist einBeispiel für die Anpassung einer Organisation, ohne dass ein Staatals treibende politische Kraft die Führung übernimmt oder dieMitgliedstaaten konvergierende Interessen haben. In diesem Fallsind der Generalsekretär und seine Mitarbeiter einflussreicheAkteure, aber sie haben nicht genügend Einfluss, um mehr als nuradministrative Verbesserungen zu erreichen, und sie können keinegrundlegende Umgestaltung der Organisation insgesamt in die Wegeleiten.
Das Ende des Kalten Krieges schien für den seit langem gelähmtenSicherheitsrat der Vereinten Nationen mit neuen Möglichkeitenverbunden zu sein. Die Agenda für Frieden von 1992 bot denVereinten Nationen ein kühnes Rahmenprogramm für ihre Maßnahmen zurWahrung und Durchsetzung des Friedens und trug zu einerRationalisierung der VN-Abteilung für Friedensoperationen bei. Inden folgenden Jahren wurde zudem das Sekretariat einer Reformunterzogen, um dessen Effizienz zu erhöhen. Jede Veränderung, diesowohl den Konsens als auch das Engagement der Mitgliedstaatenerforderte, war jedoch mit größeren Schwierigkeitenverbunden.
Ein Element dieser komplexen Bemühungen ist die Reform desVN-Sicherheitsrats selbst. Obwohl man allgemein in der Ansichtübereinstimmt, dass der Sicherheitsrat ein glaubwürdigeresInstrument darstellen würde, wenn er die tatsächlichenBevölkerungs- und Machtverhältnisse in der Welt genauerwiderspiegeln würde, ist ein Reformkonsens nicht in Sicht. Um ausdieser festgefahrenen Situation herauszukommen, hat GeneralsekretärKofi Annan einen hochrangigen Ausschuss eingesetzt, der im Dezember2004 seinen Bericht vorgelegt hat. Neben klaren Vorschlägen füreine Reform des Sicherheitsrats unterbreitete der Ausschuss auchVorschläge für eine Reihe grundlegender Veränderungen der VereintenNationen, darunter die Festlegung von Kriterien für präventivemilitärische Maßnahmen. Der Bericht verstärkt daher den Druck inRichtung auf eine umfassende Reform und fungiert in der Debatte alsvielzitiertes Hintergrunddokument.
Die künftige Gestalt und Effizienz der Vereinten Nationen ist auchfür die Umgestaltung der NATO wichtig. Dies erklärt sich daher,dass völkerrechtlich verankerte Legitimität, wie sie ein Mandat desSicherheitsrats gewährleistet, für die meisten europäischenNATO-Staaten eine wichtige, wenn nicht sogar eine notwendigeVoraussetzung dafür bildet, dass sie eine Anwendung von Gewaltüberhaupt in Erwägung ziehen. Eine enge Verbindung zwischen derNATO und den Vereinten Nationen hinsichtlich eines Einsatzes derNRF würde daher die Umgestaltung des Bündnisses durch einenbreiteren politischen Konsens fördern.
Zukunftsaussichten der NATO
Während der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts konnte die NATOnach dem Ende des Kalten Krieges überleben und ihre Relevanzwahren, indem sie sich auf die Bewältigung von Krisen in Europakonzentrierte. Obwohl diese Arbeit für die allgemeine Sicherheitund Stabilität Europas von entscheidender Bedeutung war, bedeutetesie im Hinblick auf die Förderung des politischen Zusammenhalts undder gemeinsamen Identität der Bündnispartner keinen Ersatz für dieexistentielle Bedrohung, die zuvor von der Sowjetunion ausgegangenwar. Auch durch die Umgestaltungsagenda, die seit dem 11. September2001 und insbesondere seit dem Prager Gipfel (2002) dieWeiterentwicklung des Bündnisses erfolgreich vorangetrieben hat,konnten die politischen Gegensätze zwischen den NATO-Staaten nichtüberwunden werden.
Manche Experten glauben, das derzeitige Umgestaltungsprogrammstelle den größtmöglichen Grad an Konsens dar, der heute in derNATO erreichbar ist. Folglich befürchten sie, dass sichwahrscheinlich jeder Konsens, der überhaupt besteht, in Luftauflöst, sobald das Bündnis mit Beschlüssen über die Anwendung oderAndrohung von Gewalt, über humanitäre Interventionen oder über einEngagement in einer recht entfernten strategischen Regionkonfrontiert wird; dann wäre der Fortbestand der NATO erneut inGefahr. Die andere Möglichkeit bestünde darin, dass das Bündnisüberlebt, aber nur als Dienstleistungsorganisation, die fürmultinationale Operationen unter der Führung der VereinigtenStaaten und möglicherweise einmal unter der Führung derEuropäischen Union die erforderlichen Fähigkeitenbereitstellt.
Dadurch dass Gerhard Schröder auf den Mangel an strategischenDiskussionen innerhalb der NATO aufmerksam gemacht hat, sind genaudiese Fragen in den Vordergrund getreten. Vielleicht hat er sogarden Anstoß zu genau der Art von Dialog gegeben, die er für eineNeubelebung der transatlantischen Beziehungen für erforderlichhält. Sein Vorschlag hinsichtlich der Einrichtung eineshochrangigen Gremiums ist zwar nicht angenommen worden, aberVertreter der Vereinigten Staaten haben schnell zu verstehengegeben, dass auch sie sehr an einem derartigen Dialog interessiertsind und Pläne für die Zukunft der NATO haben. „Sollte dergrundlegende Zweck der NATO jetzt nicht darin bestehen, die Flaggeder Freiheit, der Sicherheit und des Friedens auch Völkern undStaaten südlich und östlich von uns zu bringen?“, fragte derfrühere amerikanische NATO-Botschafter Nicholas Burns in einemZeitungsinterview kurz vor seinem Ausscheiden aus demBotschafteramt. Die Frage ist, ob dies ein Kurs ist, dem sich dieEuropäer anschließen können.
Henning Riecke ist bei der DeutschenGesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin als Spezialist fürFragen der europäischen und der transatlantischen Sicherheittätig.