Sonderbeitrag
Umgestaltung als Herausforderung
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John J. Garstka analysiert den Begriff „Umgestaltung“, die Rolle der Umgestaltung sowohl in gewerblichen als auch in militärischen Organisationen sowie einige Aspekte der Umgestaltung der NATO.
Mit an Bord: Zur Gewährleistung ihrer Effizienz brauchen die NATO-Reaktionskräfte technologische Innovationen, die den Einsatz moderner, interoperabler Führungs- und Leitsysteme ermöglichen.
Bei der Umgestaltung geht es um eine längerandauernde, gezielte Änderung, die häufig in großem Umfang erfolgtund mit dem strategischen Ziel vorgenommen wird, einenWettbewerbsvorteil zu erlangen oder aufrechtzuerhalten oder einemVorteil entgegenzuwirken, den ein bekannter oder neuer Konkurrenterworben hat. Der Begriff ist für Organisationen relevant, die vorHerausforderungen oder Chancen stehen, die nicht durch dieAnwendung bewährter Methodologien zur Erlangung schrittweiserVerbesserungen bestehender Organisationen, Verfahren, Technologienund Modelle der Personalverwaltung und Betriebsführung bewältigtwerden können. Eine Umgestaltung kann sowohl in privaten als auchin öffentlichen Betrieben erforderlich sein.
Der Anstoß zur Umgestaltung kann unterschiedlicher Art sein. Inmanchen Fällen wird die Umgestaltung durch eine rascheVerschlechterung der Wettbewerbsposition einer Organisationausgelöst, die eine Folge unvorhergesehener und unerwarteterVeränderungen der Wettbewerbsbedingungen oder eine Folge bisherunbekannter Veränderungsdimensionen ist. In anderen Fällen ergibtsich der Anstoß zur Umgestaltung aus einer Chance und dem Wunsch,einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen oder auszuweiten, indem mansich eine neue oder sich gerade entwickelnde Technologie zunutzemacht. Dies erfordert oft Veränderungen hinsichtlich derOrganisation, der Verfahren oder des Personals. In einem Fall, derhäufig als Unternehmenswende bezeichnet wird, kann ein anhaltendineffizienter Führungs- bzw. Managementstil zu einer derartiggravierenden Verschlechterung der Wettbewerbsposition einesBetriebs führen, dass eine Umgestaltungsperspektive erforderlichwird, um wieder einen Wettbewerbsvorteil erreichen zu können.
Beurteilung von Wettbewerbsvorteilen
Man sagt, dass eine Organisation einen Wettbewerbsvorteil hat,wenn sie im Verhältnis zu einem oder mehreren Konkurrenten einebessere Wettbewerbsposition erreicht. Die Wettbewerbsposition istein vergleichendes Maß der Leistungsfähigkeit. In praktischerHinsicht lässt sie sich messen, indem man die integriertenFähigkeiten von Konkurrenten in einem bestimmten Wettbewerbsumfeldvergleicht. Beispiele für Fähigkeiten im gewerblichen Sektor sindu.a. Produktdesign, Produktion, Marketing, Absatz und Vertrieb. Immilitärischen Bereich zählen dazu Manöver, Schlagkraft, Logistiksowie Führungs- und Leitsysteme. Gleichviel ob es sich um dengewerblichen oder den militärischen Sektor handelt, kann eineOrganisation ihre derzeitige und künftige Wettbewerbsposition durchdie Beantwortung folgender Fragen beurteilen:
Derzeitige Wettbewerbsposition:
Die menschliche Komponente der Veränderungenist der komplizierteste Faktor einesUmgestaltungsprozesses.
Bei der Auseinandersetzung bezüglich einerVerfahrensänderung ging es um die Frage, ob Panzer die Infanterieunterstützen sollten oder umgekehrt. Der Personalfaktor war fürdiese Auseinandersetzung von zentraler Bedeutung, denn der Ausgangder Debatte entschied darüber, ob der Status der bestehendenKampfeliten – der Infanterie und der Kavallerie – aufrechterhaltenund verstärkt oder aber vermindert werden würde. Als dieursprünglichen Innovationen auf den Gebieten Technologie undVerfahren in der deutschen Armee erst einmal Fuß gefasst hatten,ging es um die Frage, mit welchen organisatorischen Modellen mandie Technologie- und Verfahrensinnovationen am besten nutzenkonnte. Insbesondere ging es bei diesen Fragen desorganisatorischen Wandels um den Umfang der motorisiertenEinheiten, die aufgebaut werden sollten, d.h. ob es Panzerbrigadenoder Panzerdivisionen sein sollten.
Der Nettoeffekt der evolutionären Änderungen auf jedem dieserGebiete – in Verbindung mit dem effizienten Einsatz vonFunksystemen und der Luftnahunterstützung – war die Umgestaltungdes Bodenkriegs. Dadurch konnte Deutschland 1939 Polen sowie 1940Frankreich und seine Verbündeten so rasch besiegen.
Die Bedeutung von Innovationen auf derpersonellen Ebene
Dass manche Arten von Gefechtsführungsinnovationen unter Umständendie Lebensweise der bestehenden Elite gefährden, zählt zu denzentralen Herausforderungen der militärischen Umgestaltung. DiesesProblem ergab sich im Zuge der Entwicklung der motorisiertenKriegführung sowie durch die Entwicklung von Flugzeugträgern. Diemenschliche Komponente der Veränderungen ist der kompliziertesteFaktor eines Umgestaltungsprozesses, gleichviel ob es sich um denprivaten, öffentlichen oder militärischen Sektor handelt. Folglichmüssen sich Führungskräfte, die einen Prozess des Wandels leitensollen, auf den menschlichen Aspekt konzentrieren.
Beschleunigung der Innovation durchkontinuierliches Lernen
Ein Faktor, der die militärische Umgestaltung erschwert, bestehtin der Notwendigkeit, die potentielle operative Wirksamkeit einesneuen Konzepts nachzuweisen. Im Fall von Flugzeugträgern undmotorisierten Verbänden, die in der Zwischenkriegszeit aufkamen,schnitten die operativen Konzepte und die damit verbundenenTechnologien zunächst nicht so gut ab wie bereits vorhandeneDispositive. Nur wenige erkannten, welche potentiellen Auswirkungendiese operativen Konzepte und Technologien nach einem Reifeprozesshaben würden. In beiden Fällen war die Fähigkeit zur Durchführungeiniger sich gegenseitig verstärkender Experimente, Übungen undKriegssimulationen die entscheidende Voraussetzung dafür, dassvisionäre Führungskräfte den Lernprozess beschleunigen und dienötigen Nachweise erbringen konnten, mit denen sich Investitionenin neue Fähigkeiten abstützen ließen. Im Fall der motorisiertenKriegführung konnte eine ausreichend große Gruppe vonEinzelpersonen der deutschen Streitkräfte lernen, wie motorisierteTruppen sehr viel schneller eingesetzt werden konnten als ihreKollegen in der britischen, französischen oder polnischenArmee.
Umgestaltung und NATO
Untersucht man die NATO aus der Perspektive der Umgestaltung, sokommt es darauf an, die bereits genannten Fragen hinsichtlichderzeitiger und künftiger Wettbewerbsvorteile zu stellen. DieBeantwortung dieser Fragen kann nützliche Hinweise darauf bieten,welches Ausmaß an Umgestaltung erforderlich ist und mit welcherGeschwindigkeit entsprechende Initiativen eingeleitet werdensollten.
Man ist sich allgemein darin einig, dass sich die„Wettbewerbssituation“ der NATO geändert hat. An die Stelle dervergleichsweise statischen Wettbewerbssituation des Kalten Kriegesist eine äußerst rasch veränderliche und komplexeSicherheitslandschaft getreten. Neue Konkurrenten bedeuten inVerbindung mit ihren bisherigen bzw. ihren neuen Fähigkeiten eineneue Sicherheitsherausforderung. Zu den neuen Konkurrenten zählentransnationale und nichtstaatliche Akteure, denen zahlreichevertraute Kennzeichen wie Hoheitsgebiet, Grenzen und festeStützpunkte fehlen, die ein breites Spektrum unterschiedlichsterZiele und Motive aufweisen und die nach unterschiedlichen Regelnhandeln.
Die NATO hat auf die neue Wettbewerbssituation dadurch reagiert,dass sie die Risiken in den Griff zu bekommen versuchte, indem sieeine Truppe mit neuen Fähigkeiten und neuen Wettbewerbsattributenaufgestellt hat, die derzeitigen und künftigen Bedrohungenentgegentreten soll. Auf dem Prager Gipfel (2002) einigten sich dieNATO-Staaten darauf, dass Streitkräfte der NATO über eine höhereBeweglichkeit, Verlegefähigkeit und Durchhaltefähigkeit verfügenmüssten. Das Ausmaß des Wandels, das zum Aufbau einer Truppe miteinem integrierten Spektrum geeigneter Fähigkeiten erforderlichist, erfüllt eindeutig die Kriterien der Umgestaltung. Zudembesteht der Hauptmotor für diese Bemühungen in denNATO-Reaktionskräften (NRF – NATO Response Force).
Die NRF sind als Schnellreaktionstruppen mit einem Umfang von 20000 Mann konzipiert worden, die auf Kampfeinsätze vorbereitet sind,innerhalb von 5 bis 30 Tagen verlegt werden können und derenDurchhaltefähigkeit 30 Tage beträgt. Die NATO-Reaktionskräftesollen teilstreitkraftübergreifende Verbände darstellen, zu deneneine Bodentruppe im Umfang einer Brigade, Luftmittel sowie einDispositiv von Führungs- und Leitsystemen für bis zu 200 Flügetäglich und zudem Seestreitkräfte zählen. Damit diese Streitkräftedisloziert werden können, müssen sie für Auslandseinsätze geeignetsein. Dies erfordert technologische Veränderungen im Hinblick aufstrategische Lufttransportmöglichkeiten und Innovationen aufpersoneller Ebene im Hinblick auf Bodentruppen undLuftstreitkräfte, die außerhalb der Grenzen ihres jeweiligen Landesdisloziert werden können.
Damit die NRF als integrierte teilstreitkraftübergreifende Truppeeffizient eingesetzt werden können, werden technologischeInnovationen erforderlich sein, so dass moderne, interoperableFührungs- und Leitsysteme zur Anwendung kommen. Und mit Blick aufihre Durchhaltefähigkeit werden die NRF effiziente, robuste undanpassungsfähige logistische Fähigkeiten entwickeln müssen.Verbesserungen im Bereich der Durchhaltefähigkeit werdenInnovationen auf den Gebieten Verfahren, Organisation undTechnologie erfordern.
Die Notwendigkeit einer besseren Interoperabilität zählt zu denbedeutendsten Herausforderungen für die Streitkräfte jedeseinzelnen Landes, und besonders groß ist diese Herausforderung fürdie NATO. Zu einem noch stärkeren Motor für die Umgestaltung derNATO werden die NRF jedoch durch ihre Verbindung zum NATO-Konzeptder netzwerkgestützten Fähigkeiten (NEC – network-enabledcapability). Diese Verbindung ermöglicht den NATO-Streitkräftenmöglicherweise eine Verbesserung der Interoperabilität sowie einebessere Nutzung der neuen Machtquelle, die sich aus demInformationsaustausch ergibt. Dieses Potential im jetzigenfinanzpolitischen Umfeld tatsächlich zu nutzen und das NEC-Konzeptder NATO wirklich in die Praxis umzusetzen wird jedoch unweigerlichmit schwierigen Ausgabenentscheidungen verbunden sein.
Die Notwendigkeit von Investitionen in netzwerkgestützteFähigkeiten bietet eine Chance, bei der Konzeptentwicklung und-erprobung zusammenzuarbeiten und sich dabei darauf zukonzentrieren, im gesamten als wahrscheinlich anzunehmendenSpektrum von Operationen die Leistungsfähigkeit von vernetztenmultinationalen Truppen zu ermitteln. Bei ordnungsgemäßerDurchführung würde dieser Ansatz auch zur Erhebung des empirischenBeweismaterials beitragen, das zur Unterstützung der NATOerforderlich ist, wenn es darum geht, dass die Mitgliedstaaten indie zentralen Basisdispositive der netzwerkgestützten Fähigkeiteninvestieren sollen. Ein wesentlicher Faktor für die beschleunigteUmsetzung des NEC-Konzepts der NATO besteht in der Verbesserung derFähigkeit der NATO-Staaten, aus den Erfahrungen zu lernen, welchedie jeweils anderen Staaten mit vernetzten Streitkräften beiOperationen, Übungen und in Experimenten gemacht haben. Der Einsatzdes deutsch-niederländischen Korps in Afghanistan hat z.B. eineGelegenheit zu einem intensiven Lernprozess hinsichtlich derMöglichkeit geboten, in einem multinationalen Kontextnetzwerkgestützte und satellitengestützte Kommunikationssystemeeinzusetzen.
Ein neuer Mechanismus zur Beschleunigung desorganisationsrelevanten Lernens auf diesem Gebiet besteht imKurzlehrgang für netzwerkgestützte Operationen. DieserStabslehrgang soll vom Alliierten Kommando für Fragen derUmgestaltung in Zusammenarbeit mit dem „Centre of Excellence“ derNATO für Führungs- und Leitsysteme und dem Amt fürStreitkräfteumgestaltung des amerikanischenVerteidigungsministeriums ab Juni 2005 angeboten werden.
Betrachtet man das gesamte Spektrum der Umgestaltungsinitiativender NATO, so ist die Errichtung des Alliierten Kommandos für Fragender Umgestaltung als eine wichtige organisatorische Innovationhervorzuheben, die weiterhin einen großen Beitrag zurkontinuierlichen Umgestaltung der NATO zu leisten verspricht. DieArbeit dieses Kommandos und die der neu entstehenden „Centres ofExcellence“ der NATO bietet eine solide Grundlage zur Förderung derweiteren Umgestaltung des Bündnisses. Will man den Erfolg einermilitärischen Umgestaltung beurteilen, so macht die Geschichtedeutlich, wie wichtig Führungspersönlichkeiten sind, die denProzess des Wandels leiten können, und von welch großem Wert eineKultur ist, die Veränderungen aufgeschlossen gegenübersteht,anderen Meinungen mit Toleranz begegnet und Innovationenunterstützt. Ob in der NATO die für einen Erfolg entscheidendenFaktoren vorhanden sind, wird sich erst mit der Zeit erweisen.Urteilt man nach den bisherigen Fortschritten, so bestehtallerdings Anlass zu Optimismus.
John J. Garstka ist im Amt fürStreitkräfteumgestaltung des amerikanischenVerteidigungsministeriums stellvertretender Leiter des Bereichs„Konzepte und Operationen“.