Ein politischeres Bündnis
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Mark Joyce untersucht, welche Fortschritte bei der Umgestaltung der NATO erzielt worden sind, seit Jaap de Hoop Scheffer als Nachfolger von Lord Robertson das Amt des Generalsekretärs übernommen hat.
Appell: NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer hat das Bündnis dazu aufgerufen, im Einklang mit gemeinsamen strategischen Interessen und Werten aktiv zur Gestaltung des internationalen Sicherheitsumfelds beizutragen.
Seit Jaap de Hoop Scheffer andie Spitze der NATO getreten ist, hat er die Umgestaltungsreformen,die von seinem Vorgänger Lord George Robertson eingeleitet wordenwaren, weitergeführt und fortentwickelt. Er hat dafür gesorgt, dassdie Reaktionskräfte der NATO (NRF – NATO Response Force) bisher denZeitplan für die Erreichung der vollen Einsatzbereitschaft (2006)eingehalten haben, und zugleich die unspektakulären und häufigfrustrierenden Bemühungen fortgesetzt, mit denen er dieBündnismitglieder dazu bewegen will, die im Jahr 2002 auf demNATO-Gipfel in Prag eingegangenen Verpflichtungen in Bezug aufVerteidigungsinvestitionen einzuhalten. Er hat die Präsenz der NATOin Afghanistan verstärkt und die Bündnisstaaten dazu gedrängt, diedortige ISAF (International Security Assistance Force) als einenentscheidenden Umgestaltungskatalysator zu betrachten, derUnterstützung verdient, anstatt in ihr eine schwere operativeBelastung zu sehen, die man ertragen muss. Zudem hat er sich fürdie jüngste NATO-Operation außerhalb des Bündnisgebiets, dieMission in Irak, mit größtem Nachdruck eingesetzt.
Wie man nach einer Amtszeit von 15 Monaten erwarten kann, ist Jaapde Hoop Scheffer deutlich über das Anfangsstadium hinausgekommen,in dem man lediglich das Vermächtnis seines Vorgängers verwaltet.In seiner kurzen Amtszeit ging das Umgestaltungsprojekt sogarbereits zu seiner zweiten Phase über, in der weitere Reformenhinsichtlich der Fähigkeiten mit Bemühungen der NATO verbundensind, sich zu einer zentralen Schaltstelle für allgemeineUmgestaltungstendenzen zu entwickeln.
Von Anfang an war die Umgestaltung der NATO als einzweidimensionaler Prozess angelegt, in dem die Doppelrolle derOrganisation als eines defensiven Militärbündnisses und als einerproaktiven politischen Organisation zum Ausdruck kommen sollte. Bisvor wenigen Monaten wurde die politische Arbeit der NATO jedochstets von ihren militärischen Reformen überschattet.
Manche der Gründe dafür liegen klar auf der Hand. Die Meilensteineder militärischen Umgestaltung wie der Aufbau derNATO-Reaktionskräfte oder die Errichtung eines neuen Kommandos fürFragen der Umgestaltung in Norfolk (Virginia, USA) lassen sichleichter quantifizieren, beurteilen und würdigen als die Ergebnisseder politischen Programme des Bündnisses. Auch wenn die Ausweitungder NATO-Mitgliedschaft einen möglichen Maßstab zur Beurteilung despolitischen Erfolgs bietet, lassen sich die Auswirkungen derÖffnungsprogramme in Richtung auf Osteuropa, den Kaukasus, denNahen/Mittleren Osten und Nordafrika fast überhaupt nichtquantitativ erfassen. Zweifellos gab es auch Zeiten, in denen dierelativ geringe Bedeutung der politischen Arbeit der NATO fürDiplomaten des Bündnisses von Vorteil war, wenn sie versuchten, inbestimmten Nachbarstaaten falschen Eindrücken von Triumphiergehabeoder Feindseligkeit entgegenzutreten.
Seit seinem Amtsantritt als Generalsekretär hat Jaap de HoopScheffer immer wieder betont, wie wichtig es ist, die militärischeUmgestaltung der NATO in einen übergreifenden proaktivenpolitischen Rahmen einzuordnen. Der Generalsekretär hat dafürplädiert, zusätzlich zu den bereits bestehenden Partnerschaften im„nahen Ausland“, d.h. in Osteuropa und auf dem Balkan, einendynamischeren Beitrag zur Sicherheit des Nahen/Mittleren Ostens undZentralasiens zu leisten und Partnerschaften mit globalen Akteurenwie China, Japan und Indien aufzuwerten. Vor dem Hintergrund derneuen proaktiven Haltung des Bündnisses hat er auch eine gründlicheÜberprüfung der Beziehungen der NATO zur Europäischen Union und zuden Vereinten Nationen unterstützt. Mit Formulierungen, die nochvor wenigen Jahren für einen NATO-Generalsekretär undenkbar gewesenwären, hat Jaap de Hoop Scheffer das Bündnis dazu aufgefordert, dasinternationale Sicherheitsumfeld im Einklang mit gemeinsamenstrategischen Interessen und Werten aktiv mitzugestalten.
Ein politischeres Bündnis
Dieser erneute Ruf nach einer selbstbewussten, reformorientiertenpolitischen Strategie des Bündnisses ist auch eine Reaktion aufEntwicklungen außerhalb des NATO-Gebiets. Trotz des anhaltendenKrisenbewusstseins aufgrund der politischenMeinungsverschiedenheiten in der Irakfrage, gibt es seit einigerZeit Anzeichen für eine Konvergenz der allgemeinen strategischenPrioritäten Amerikas und Europas. Das EU-Weißbuch zuSicherheitsfragen Ein sicheres Europa in einer besserenWelt, das im Dezember 2003 veröffentlicht wurde, plädiert füreine aktivistische europäische Strategie gegen die Gefahren desTerrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,regionaler Konflikte und des Zusammenbruchs der staatlichenOrdnung, und zwar mit Worten, die sich zum größten Teil kaum vonder im Jahr 2002 veröffentlichten NationalenSicherheitsdoktrin der Regierung Bush unterscheiden, einemDokument, das man für einen Großteil der transatlantischenSchwierigkeiten verantwortlich gemacht hat. In den darauffolgendenMonaten verliehen Frankreich, Deutschland und das VereinigteKönigreich ihren stagnierenden Verhandlungen mit Iran neue Impulseund unternahmen zugleich übergreifende europäischen Bemühungen inRichtung auf ein erneutes Engagement in China. Obwohl dieseInitiativen in einer Hinsicht die Ursache neuer transatlantischerSpannungen waren, haben sie auch deutlich gemacht, dass Europazunehmend darum bemüht ist, strategische Krisen durch frühzeitige,präventive Kontakte zu verhindern. Die Europäer schreckenvielleicht vor so hochtönenden Worten wie „Vorwärtsstrategie fürFreiheit“ zurück, aber ihre internationale politische Strategieentwickelt sich trotzdem zweifellos in Richtung auf dieUmgestaltung.
Diese Tendenz wurde im Februar während der Europabesuche deramerikanischen Außenministerin Condoleeza Rice und desamerikanischen Präsidenten George W. Bush deutlich erkennbar. EinJahr zuvor hätte man in europäischen Hauptstädten auf Aufrufe derRegierung Bush zu einem Kreuzzug für Freiheit und Demokratie mitoffenem Hohn reagiert. Dieses Mal war der Empfang so herzlich wieschon seit den Tagen direkt nach dem 11. September 2001 nicht mehr.Natürlich muss man die Vorführatmosphäre bei einem sorgfältiginszenierten Präsidentenbesuch mit einer gesunden Prise Skepsisgenießen. Es gibt jedoch ermutigende Anzeichen dafür, dass sowohldie Regierung Bush als auch ihre europäischen Kritiker nun auf ihreeher polarisierenden Tendenzen verzichten und eher bemüht sind, dieGemeinsamkeiten ihrer Visionen für die Umgestaltunghervorzuheben.
Bei der NATO waren die groben Züge einer politischenUmgestaltungsstrategie schon lange implizit in den militärischenReformen des Bündnisses enthalten. Die Abkehr von einem statischenVerteidigungsdispositiv zugunsten des Übergangs zu beweglicheren,besser verlegefähigen Streitkräften für Auslandseinsätze hat immerauf eine Zukunft gedeutet, in der das Bündnis die Grenzen desNATO-Gebiets hinter sich lassen würde, um Gefahren dort zubekämpfen, wo sie entstehen. Die ISAF-Mission in Afghanistan hatdie NATO-Streitkräfte mit einigen der neuen Herausforderungenkonfrontiert, mit denen sie es in Zukunft wahrscheinlich zu tunhaben werden, und sie fungierte auch als Katalysator für diederzeitigen Streitkräftereformen der NATO im Bereich derFähigkeiten. Selbst diese Mission wurde jedoch zunächst durch einekreative Auslegung der traditionellen defensiven Strategie desBündnisses begründet. Die ISAF war im Wesentlichen eine verspäteteEinlösung der Inkraftsetzung von Artikel 5, die am 12. September2001 erfolgte, und die Mission wurde als Möglichkeit dargestellt,die erneute Errichtung eines terroristischen Stützpunktes zuverhindern, von dem aus das euro-atlantische Gebiet am 11.September 2001 angegriffen worden war und vielleicht wiederangegriffen würde. In den zwei Jahren seit der Übernahme desISAF-Kommandos durch die NATO hat sich der Ton dertransatlantischen strategischen Diskussionen deutlich verändert,und die Europäer formulieren allmählich ihre eigene Version einesvorbeugenden, reformorientierten internationalen Engagements. DieNATO hat folglich nun die Gelegenheit, sich als zentraleSchaltstelle zur Kanalisierung dieser gemeinsamen strategischenBemühungen zu profilieren.
Die groben Züge einer politischenUmgestaltungsstrategie waren schon lange implizit in denmilitärischen Reformen des Bündnissesenthalten.
Einige weitere äußere Einflüsse haben derderzeitigen militärischen Umgestaltung der NATO neue Impulseverliehen. Trotz aller Fortschritte, die unter Lord Robertsonerzielt wurden, besteht kein Zweifel daran, dass viele europäischeNATO-Mitglieder sowohl hinsichtlich des Begriffs „Umgestaltung“ alsauch hinsichtlich der mutmaßlichen Prinzipien dieser Umgestaltungweiterhin ihre Zweifel hatten. In den Augen der Skeptiker wurdeUmgestaltung gleichbedeutend mit einer kapitalintensiven, aufNetzwerken beruhenden, sehr kostspieligen und im Wesentlichen vonden Vereinigten Staaten bestimmten Form der Streitkräftereform, diefür sie weder realistisch noch erstrebenswert war. Viele meintenauch hinter den Reformbemühungen eher zweifelhafte Motive entdeckenzu können und betrachteten die Umgestaltung als einen nahezuunverhohlenen Versuch, die europäischen Märkte für amerikanischeVerteidigungsexporte zu öffnen.
Auf der Ebene der NATO bestand die vielleicht schärfste Kritikhinsichtlich der Umgestaltung darin, dass sie darauf abziele, einewenig schmeichelhafte und politisch inakzeptable militärischeArbeitsteilung zu institutionalisieren. In Afghanistan und imKosovo ist laut dieser Ansicht ein operatives Muster eingeführtworden, dem zufolge die Vereinigten Staaten „töten und zerstören“,bevor europäische Streitkräfte entsandt werden, umfriedenserhaltende Maßnahmen durchzuführen sowie Stabilisierungs-und Wiederaufbauaufgaben wahrzunehmen. Es sei wohl kaumverwunderlich, heißt es dann, dass die Europäer mit Investitionenin die Umgestaltung zögern, wenn sie durch solche Investitionen nurdazu ausgerüstet werden, nach einer Party der Amerikaner denAufwasch zu machen.
Die Auswirkungen der Irakkrise
Die Erfahrungen in Irak haben die simplifizierende Dichotomiezwischen Kampfeinsätzen und Aktivitäten nach Konflikten wie auchdie Ansicht widerlegt, dass Stabilisierungs-, Wiederaufbau- undFriedensmaßnahmen etwas für Schwächlinge seien. Terroristen undAufständische mit asymmetrischen Methoden haben aus der „Phase“nach dem Konflikt ein weitaus intensiveres und kostspieligeresUnternehmen gemacht als die relativ kurze Phase der konventionellenKriegführung, die ihr voranging. Untergraben wurde somit sogar dieVorstellung, Kriegführung sei ein linear fortschreitender Prozess,der von äußerst intensiven Kampfeinsätzen zu weniger riskantenPhasen nach einem Konflikt führe. Die verbündeten Streitkräfte desIrakkrieges mussten sich einer amorphen Situation anpassen, in dersich das Gefahrenniveau und auch die Art und die Ziele der Gegnerständig änderten.
Diese Erfahrungen hatten einen maßgeblichen Einfluss auf dieArchitekten der amerikanischen Streitkräftereform und führten zuder allgemeinen Einsicht, dass die überwältigende Überlegenheit imBereich der konventionellen Kriegführung durch Defizitehinsichtlich der Bekämpfung nicht-konventioneller Gefahrenuntergraben wird. Dieser Erkenntnis wird aber noch keine so großeDringlichkeit beigemessen, dass dadurch eine grundlegendeÜberprüfung der Ausgabenprioritäten des Verteidigungsministeriumsherbeigeführt würde. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass sich die„irreguläre Kriegführung“ von einem zweitrangigen Anliegen zu einerzentralen Priorität der amerikanischen Verteidigungsplanungentwickelt hat. Das Dokument zur Überprüfung desVerteidigungsbereichs (2006 Quadrennial Defense Review)untersucht systematischer als je zuvor den Nutzen und die Mängelderzeitiger und geplanter Verteidigungsplattformen für Operationenzur Bekämpfung nicht-konventioneller Gefahren. Das GemeinsameStreitkräftekommando, eine der wichtigsten intellektuellenTriebkräfte der amerikanischen Streitkräftereform, befasst sichinzwischen mit einer eher grundlegenden Überprüfung operativerKonzepte und Doktrinen vor dem Hintergrund der „irregulären“Gefahren. Diese Überprüfung wird wahrscheinlich zu einer weiterenSchwächung der Annahme führen, dass es durch die hauptsächlich aufNetzwerken beruhende Umgestaltung leichter werde, militärische„Effekte“ mit immer weniger militärischem Personal zu erreichen.Zudem wird die Überprüfung auch mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit die Forderung nach einem kreativeren Ansatz fürdie Zusammenarbeit des amerikanischen Militärs mit den zivilenBehörden und vor allem mit verbündeten Staaten enthalten.
Diese Schwerpunktverlagerung hinsichtlich der amerikanischenStreitkräfteumgestaltung schafft im Hinblick auf einensubstantiellen transatlantischen Meinungsaustausch so günstigeBedingungen wie schon lange nicht mehr. Am deutlichsten zeigt sichdies daran, dass die erneute Betonung der „irregulären“Kriegführung – einer Kategorie, unter die Stabilisierungs- undWiederaufbauaufgaben sowie Maßnahmen zur Unterstützung des Friedensfallen – die Umgestaltung der amerikanischen Streitkräfte sehr vielstärker einer Vision annähert, die für die Europäer akzeptabel istund zu der sie auch wirklich einen Beitrag leisten können. DasZiel, die Interoperabilität und die Zusammenarbeit mit verbündetenStaaten zu verbessern, ist spezifischerer Art und bietet der NATOzweifellos eine Chance, ihr Ansehen in den Augen der VereinigtenStaaten zu verbessern.
Die militärischen Planungsexperten des Bündnisses sind sich überdiesen Sachverhalt im Klaren und haben sich bemüht, die NATO alseine zentrale intellektuelle Schaltstelle für die transatlantischeDebatte über die Umgestaltung der Streitkräfte in den Vordergrundzu stellen. Das Alliierte Kommando für Fragen der Umgestaltungbietet ein Forum für den Austausch und die Synthese amerikanischerund europäischer Vorstellungen, z.B. hinsichtlich derzivil-militärischen Zusammenarbeit in einem veränderten operativenUmfeld. Die NATO-Reaktionskräfte werden indessen bald einumgestaltetes militärisches Dispositiv darstellen, auf das sichdiese neuen operativen Konzepte stützen können.
Sowohl hinsichtlich ihrer politischen als auch hinsichtlich ihrermilitärischen Bemühungen hat die NATO durch übergreifendeUmgestaltungstendenzen die Gelegenheit erhalten, die von ihr seitmehreren Jahren angestrebten Reformen zu beschleunigen. Weder aufpolitischer noch auf militärischer Ebene besteht jedoch Anlassdazu, selbstzufrieden die Hände in den Schoß zu legen, und Zeit hatman dazu auch nicht. Es ist zwar ermutigend, dass sich in Europa soetwas wie eine internationale Umgestaltungsstrategie herausbildet,aber das Bündnis hat es immer noch nicht geschafft, die Skeptikerdavon zu überzeugen, dass es im Hinblick auf die Förderung dieserStrategie parallel zur Europäischen Union eine wichtige Rolle zuspielen hat. Hinsichtlich der militärischen Umgestaltung bietensich verändernde Tendenzen in den Vereinigten Staaten der NATO eineGelegenheit, in der transatlantischen Debatte über die Umgestaltungeine größere Ausgewogenheit zu erreichen. Einer Debattegleichberechtigter Partner muss jedoch eine größere Ausgewogenheithinsichtlich der auf beiden Seiten unternommenen Anstrengungenentsprechen. Wie Lord Robertson hervorhob, wird der Wert der NATOals eines strategischen Dispositivs letztlich von drei Dingenabhängig sein: von Fähigkeiten, Fähigkeiten,Fähigkeiten.
Mark Joyce leitet dasTransatlantikprogramm am „Royal United Services Institute“ inLondon.