Relevant bleiben

  • 01 Jan. 2005 - 01 January 0001
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  • Last updated 04-Nov-2008 02:11

Jonathan Parish beschreibt aus persönlicher Sicht sowohl die Umgestaltung der NATO als auch die Veränderungen in seinem eigenen Leben.

Das Navigieren war leicht. Ich musste nurdafür sorgen, dass der große Zaun zu meiner Linken blieb und ichweiterhin in Richtung Süden steuerte. Mein Passagier war einAngehöriger des britischen Grenzschutzes, und er kannte jedenZentimeter dieses Zauns. Ich hatte die Aufgabe, mit ihm an derGrenze unseres Sektors entlangzufliegen, so dass er kontrollierenkonnte, ob es Anzeichen für ungewöhnliche Aktivitäten auf deranderen Seite gab. Doch dies war kein normaler Zaun (es handeltesich um den März des Jahres 1983 und um die innerdeutsche Grenze),und jede meiner Bewegungen mit dem britischen Gazelle-Hubschrauberwurde auf der anderen Seite der Grenze von einem sowjetischenHind-Hubschrauber genauestens mitverfolgt.

In den nächsten sechs Jahren flog ich Panzerabwehrhubschrauber inder Bundesrepublik Deutschland. Jeder Morgen begann mit dergleichen Routine: ein Wetterbericht für das Gebiet und dann eineeingehende Beschäftigung mit der militärischen Ausrüstung desWarschauer Paktes und der NATO, damit wir in der Lage waren, beimAbschuss unserer Panzerabwehrraketen zwischen den Systemen derbeiden Bündnisse zu unterscheiden.

Nach meiner Zeit in Deutschland und einem Stabslehrgang imVereinigten Königreich erhielt ich 1990 einen Posten bei SHAPE.Meine Kollegen erlaubten sich einen Scherz und meinten, meinGolfspiel würde nun besser werden, weil SHAPE die Abkürzung für„Superb Holidays At Public Expense“ sei. Das war das Image, das inden mehr als 40 Jahren des Kalten Krieges durch die statischeNATO-Zentrale, durch die im Voraus geplanten militärischen Optionenund durch veraltete Vorgehensweisen des Bündnisses entstanden war.Die Pläne dafür, wie man das massive Panzeraufgebot der Sowjetunionin der norddeutschen Tiefebene besiegen würde, brauchten kaumeinmal aktualisiert zu werden, so dass es allen meinen Vorgängernin der Zeit, in der sie nicht gerade supertolle Ferien genossen,gelungen war, ihre Golfdefizite abzubauen.

Ich begann bei SHAPE jedoch erst ein Jahr nach dem Zusammenbruchdes Ostblocks und kurz nach der Londoner Erklärung über dieNordatlantische Allianz im Wandel. Und es wurde bald klar,dass die NATO nicht mehr die gleiche Organisation war wie in derZeit, als ich den eingangs beschriebenen Grenzpatrouillenflugmachte. Die Umgestaltung der NATO hatte bereits begonnen.

Aber worin besteht die Umgestaltung? Dieser Begriff scheint fürjeden etwas anderes zu bedeuten, und ich finde keine vom Bündnisvereinbarte Definition für ihn. Ich würde sagen, die Umgestaltungzielt darauf ab, dass die NATO im veränderten Sicherheitsumfeldihre Relevanz beibehält und weiterhin dazu in der Lage ist, allevon ihr beschlossenen Aufgaben wirksam wahrzunehmen.

Die Veränderungen, die 1990 nach der Londoner Erklärungeingeleitet wurden, waren eine Reaktion auf das Ende des KaltenKrieges. Zusammenfassend kann man von einer Abkehr von einemdefensiven, reaktiven Sicherheitsansatz und dem Übergang zu einemeher proaktiven Ansatz reden, der sich auf die Verbreitung vonSicherheit und Stabilität konzentrierte. Auch wenn das imWashingtoner Vertrag niedergelegte Bekenntnis zur kollektivenSicherheit als Stützpeiler des Bündnisses und Bindeglied zwischenEuropa und Nordamerika erhalten blieb und auch in Zukunft geltenwird, kam die Umgestaltung der NATO im letzten Jahrzehnt desvorigen Jahrhunderts am deutlichsten im Partnerschaftsprinzip undin Maßnahmen zur Bewältigung von Krisen zum Ausdruck.

Die Bewältigung von Krisen war in den 90er Jahren des vorigenJahrhunderts auch mein Arbeitsbereich. Anfang der 90er Jahre warich bei SHAPE mit der ersten Entsendung von NATO-Truppen befasst,als der Türkei während des ersten Golfkriegs Unterstützung gewährtwurde. Ich hatte auch viel zu tun, als die NATO die Luftbrücke fürdie Hilfsmitteltransporte in die ehemalige Sowjetunionunterstützte. Und noch mehr hatte ich zu tun, als die NATO sichimmer mehr auf dem Balkan engagierte, indem sie zuerst dieÜberwachung schwerer Waffen durch die Vereinten Nationenunterstützte, dann die Flugverbotszone überwachte und schließlichdie Sanktionen der Vereinten Nationen mit Seeoperationenunterstützte.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dasseine gemeinsame Vision, ein gemeinsames Verständnis und einegemeinsame Zielsetzung das Fundament der Aufgaben und Fähigkeitender NATO bilden.

Während der zweiten Hälfte der 90er Jahrehatte ich nationale militärische Aufgaben und war Kommandeur einesHubschrauberregiments. Dies führte zu weiteren Aufträgen, die sichaus der Rolle der NATO bei der Bewältigung von Krisen ergaben:Einsätze in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo.

Zu Beginn des jetzigen Jahrzehnts kam ich zum InternationalenMilitärstab in der NATO-Zentrale. Dort erlebte ich die nächstePhase der Umgestaltung der NATO, als das Bündnis 2002 beschloss,aus seiner euro-atlantischen Zwangsjacke auszubrechen. Doch ich warüberrascht, dass so viele damals und auch heute noch von Prag alsvon dem Umgestaltungsgipfel sprechen. Aus meiner Sichtwurde schon in London der Kurs abgesteckt; Prag war einestabilisierende Hand am Ruder.

Die Bedrohung durch den Terrorismus und die Gefahren aufgrund derVerbreitung von Massenvernichtungswaffen bedeuten, dass dieSicherheit der Bündnispartner in zunehmendem Maße von Ereignissenabhängig ist, die sich in großer Entfernung von ihrem Hoheitsgebietabspielen. In Prag erkannte das Bündnis dies an und trafentsprechende Maßnahmen zu seiner weiteren Anpassung. Dazu gehörteauch die Einsicht, dass angesichts dieser neuen Bedrohungen einemöglichst breite Zusammenarbeit erforderlich ist, nicht nur mitStaaten, sondern auch mit anderen internationalen Organisationenund Institutionen; und daher erklärt sich auch die Prager Forderungnach „neuen Mitgliedern“ und „neuen Beziehungen“.

Diese Arbeitsbereiche der Umgestaltung waren jedoch lediglich eineFortsetzung der Veränderungen, die wir bereits eingeleitet hatten –keine völlig neuen Initiativen. Auf dem Londoner Gipfel von 1990war die NATO ein Bündnis mit 16 Mitgliedstaaten, und zum Zeitpunktdes Prager Gipfels betrug die Zahl der Mitglieder bereits 19. DieNATO hatte eine umfassende Partnerschaftspolitik in die Wegegeleitet, indem sie dem Osten die Hand der Freundschaft reichte.Dieses Angebot der Freundschaft war 1994 in Richtung Südenausgeweitet worden und erfasste dann die Staaten Nordafrikas unddes Nahen Ostens (und letztes Jahr wurde es auf dem IstanbulerGipfel noch weiter ausgedehnt und umfasste auch die Staaten derGolfregion). Zudem hatte die NATO zum Zeitpunkt des Prager Gipfelsbereits ihren Platz im Geflecht der internationalen Organisationengefunden und arbeitete in zunehmendem Maße mit der EuropäischenUnion, mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa und mit den Vereinten Nationen zusammen.

Ähnliches gilt auch für die „neuen Fähigkeiten“. Der PragerBeschluss zur Bildung der NATO-Reaktionskräfte ergab sich logischaus der Londoner Forderung nach äußerst mobilen und vielseitigenmultinationalen Streitkräften, die zur Errichtung des ARRC (AlliedCommand Europe Rapid Reaction Corps – ACE-Schnelleingreifkorps)geführt hatte. Die in Prag angekündigten Veränderungen derKommandostruktur der NATO stützten sich auf einen bereits in den90er Jahren gefassten Beschluss, die Zahl der NATO-Kommandobereichedurch die Abschaffung des Kommandobereichs Ärmelkanal von drei aufzwei zu verringern. Die Prager Verpflichtung zuVerteidigungsfähigkeiten konzentrierte sich auf die Fähigkeiten,die zur Terrorismusabwehr erforderlich sind, und verlieh denBemühungen um die Beschaffung besserer Ausrüstung zusätzlicheImpulse; diese Bemühungen waren allerdings bereits durch dieInitiative zur Verteidigungsfähigkeit des Washingtoner Gipfels von1999 eingeleitet worden (als drei weitere Staaten dem Bündnisbeitraten und das neue Strategische Konzept der NATO verabschiedetwurde).

Rückblickend kann man sowohl London als auch Prag als Reaktion aufVeränderungen im Umfeld der NATO betrachten. Während London eineReaktion auf das Ende des Kalten Krieges darstellte, war Prag eineReaktion auf die Terrorangriffe auf die Vereinigten Staaten vom 11.September 2001. Der Prager Gipfel war also nicht derUmgestaltungsgipfel, sondern er stellte sicher, dass die NATO denin London eingeschlagenen Kurs beibehielt; er gewährleistete dieweitere Relevanz der NATO, indem das Bündnis neue Aufgaben übernahmund die Fähigkeiten erwarb, die zu deren wirksamer Wahrnehmungerforderlich waren.

Wir müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass selbst derZugang zu unbegrenzten Mengen modernster Rüstungsgüter nichtsnützen wird, wenn sich die NATO-Partner nicht darauf einigenkönnen, wann und wie sie einzusetzen sind. Die Ereignisse derletzten Zeit haben gezeigt, dass sich auch innerhalb der NATOVeränderungen ergeben haben, denen nun im Rahmen der Bemühungen umdie Umgestaltung einige Aufmerksamkeit zu widmen sein wird. Währendfrühere Bedrohungen die Bündnispartner einigten, sind die jetzigenBedrohungen mit der Gefahr einer Spaltung verbunden, wie 2003 imZusammenhang mit der Irakkrise deutlich wurde. Daher ist es vonentscheidender Bedeutung, dass eine gemeinsame Vision, eingemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Zielsetzung dasFundament der Aufgaben und Fähigkeiten der NATO bilden. Daher hatsich auch der NATO-Generalsekretär in letzter Zeit für dieFörderung des politischen Dialogs innerhalb des Bündnisseseingesetzt, und auch hier gilt interessanterweise, dass dieBündnispartner schon 1990 in ihrer Londoner Erklärung ihreAbsicht bekundet hatten, die politische Komponente des Bündnisseszu stärken.

Abschließend möchte ich festhalten, dass die LondonerErklärung meiner Meinung nach den ersten Anstoß zurderzeitigen Umgestaltung der NATO gab und dass der Prager Gipfeldafür sorgte, dass dieser Prozess den richtigen Kurs beibehielt. ImLaufe der Jahre war ich im Rahmen meiner Arbeit mit den Folgenzahlreicher Umgestaltungsinitiativen dieser Gipfeltreffen befasst.Meiner Ansicht nach werden jedoch alle diese Initiativen nichtsnützen können, wenn sich die NATO nicht selbst schnellstens soumgestaltet, dass der politische Dialog gefördert wird. Unter denBündnispartnern wird man niemals einen gemeinsamen Standpunkterreichen können, wenn sie umstrittenen politischen undsicherheitsrelevanten Fragen einfach ausweichen. Im heutigenSicherheitsumfeld müssen derartige Fragen erörtert werden, und zwarfrühzeitig und mit breiter Beteiligung. Wenn die NATO-Staaten nichtdazu bereit sind, sich dieser Herausforderung zu stellen und solcheFragen innerhalb des Bündnisses zu besprechen, dann wird die NATOihre Bedeutung verlieren, und man wird eine Alternative zu ihrfinden. Ich bin davon überzeugt, dass die NATO ein ideales Forumfür derartige Debatten darstellt, aber ich bin auch besorgt, dasswir dieses Forum verlieren werden, wenn wir es nicht nutzen.

PS: Auch ich habe mich verändert. Letztes Jahr tauschte ich meinegrüne Militäruniform gegen einen grauen Straßenanzug ein, und diegefährlichste Waffe, die ich jetzt als Zivilist benutzen darf, istein spitzer Bleistift. Andere müssen beurteilen, ob ich meineBedeutung und meine Fähigkeiten beibehalten konnte odernicht.

Jonathan Parish ist in der NATO-Abteilungfür politische Angelegenheiten und Sicherheitspolitik in führenderPosition im Referat für politische Planung und die Ausarbeitung vonReden tätig.