Zwischenbilanz der Umgestaltung des Bündnisses

Prager Agenda

  • 01 Jan. 2005 - 31 March 2005
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  • Last updated 04-Nov-2008 02:09

Robert Bell untersucht, inwieweit die Umgestaltungsprogramme der NATO von Prag, Norfolk und München in die Praxis umgesetzt worden sind.

Bei dem Begriff „Umgestaltung“ denke ichnicht an etwas, was zuerst nicht umgestaltet ist und dann in eineumgestaltete Form übergeht. Ich denke dabei an einen Prozess, indessen Rahmen wir durch den Charakter unserer Welt des 21.Jahrhunderts zum Weitermachen gezwungen sind, und dabei handelt essich eher um eine Frage der Kultur und der Einstellung als umTechnologien und Plattformen.

Donald H. Rumsfeld, Verteidigungsminister der VereinigtenStaaten

Als Außenminister unter dem ehemaligen amerikanischen PräsidentenRonald Reagan verglich George Schultz die Diplomatie einmal ineinem inzwischen berühmt gewordenen Ausspruch mit dem Versuch,seinen Garten von Unkraut frei zu halten: in beiden Fällen, meinteer, kann man eigentlich nie behaupten, mit der Arbeit fertig zusein. Das Gleiche gilt auch für die „Umgestaltung“. Wie deramerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld kürzlichfeststellte, ist die Umgestaltung eher ein Prozess als einEndzustand, wobei neue Erfordernisse, neue Herausforderungen undneue Sicherheitsumfelder fortlaufend neue Änderungen und weitereAnpassungsmaßnahmen erfordern.

Obwohl das Wort „Umgestaltung“ erst in den letzten Jahren in Modegekommen ist, war die NATO im Grunde schon seit dem Zusammenbruchder Sowjetunion vor eineinhalb Jahrzehnten mit einem„Umgestaltungsimperativ“ konfrontiert. Seitdem hat sich das Bündnisimmer wieder mit der Warnung auseinander setzen müssen, dass essowohl seine Relevanz als auch seine Lebensfähigkeit einbüßenwerde, wenn es sich nicht anpassen, weiterentwickeln oder einerReform unterziehen könne. Vor zehn Jahren stellte man die NATO vordie Alternative, über das Hoheitsgebiet der NATO-Mitgliederhinauszugehen oder ganz von der Bühne abzutreten. Die politischenProzesse, durch die das Bündnis Ende der 90er Jahre des vorigenJahrhunderts letztlich einen Konsens bezüglich der Notwendigkeiterzielte, einen Krieg gegen einen Staat (Rest-Jugoslawien) zuführen, der de facto keinen Angriff auf NATO-Gebiet durchgeführthatte, können durchaus als der erste große „Umgestaltungserfolg“des Bündnisse in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegesbezeichnet werden.

Heute gibt es nicht so etwas wie die „Umgestaltungsagendader NATO“. Vielmehr kann man von drei Umgestaltungsprogrammensprechen, die jeweils aus unterschiedlichen Gründen zuunterschiedlichen Zeitpunkten eingeleitet worden sind, aber nunalle einander überlappen und miteinander verbunden sind. Gemeintsind die Prager Agenda, die 2002 vom ehemaligenNATO-Generalsekretär Lord Robertson als Reaktion auf die Lehren ausder Kosovo-Krise und dem 11. September 2001 in die Wege geleitetwurde und sich auf Fähigkeiten, Missionen und Strukturenkonzentriert; die Agenda von Norfolk, die 2004 vom jetzigenNATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer als Reaktion auf die„Lehren aus dem Afghanistan-Konflikt“ eingeleitet wurde und sichauf Veränderungen in den Bereichen Verteidigungsplanung,Streitkräfteaufwuchs und gemeinsame Finanzierung konzentriert,und schließlich die Münchener Agenda, die 2005 von BundeskanzlerGerhard Schröder als Reaktion auf die „Lehren aus der Irak-Krise“initiiert wurde und sich auf Veränderungen hinsichtlich der Rolleder NATO (oder den Mangel an solchen) als eines Forums für wirklichtransatlantische strategische Konsultationen undBeschlüsse konzentriert.

Prager Agenda

Durch die Luftangriffe, mit denen das Bündnis Rest-Jugoslawien1999 innerhalb von 78 Tagen zur Beendigung der „ethnischenSäuberungen“ im Kosovo zwang, wurden hinsichtlich des Potentialsfür anspruchsvollere Kampfeinsätze besorgniserregende„Bruchstellen“ zwischen den militärischen Fähigkeiten derVereinigten Staaten und denen der übrigen Bündnispartner deutlich.Die Zahlen sind inzwischen allseits bekannt: 90 Prozent derpräzisionsgesteuerten Kampfmittel wurden mit Hilfe amerikanischerKampfflugzeuge und Bomber eingesetzt, und die meistenBündnispartner konnten noch nicht einmal eine sichere Kommunikationzwischen ihren Flugzeugen gewährleisten, so dass NATO-Verbändeungesicherte Kommunikationskanäle benutzen mussten. Die VereinigtenStaaten stellten zudem 100 Prozent der Funkstörungsfähigkeiten derNATO, 90 Prozent der Luft-Boden-Überwachung und 80 Prozent derLuftbetankungsflugzeuge. Lord Robertson war über diese „Kluft“ sobesorgt, dass er immer wieder seine Überzeugung zum Ausdruckbrachte, dass die drei wichtigsten Prioritäten der NATO„Fähigkeiten, Fähigkeiten, Fähigkeiten“ sein müssten.

Als die „Lehren aus dem Kosovo-Konflikt“ noch nicht ganz verdautwaren, wurde das strategische Umfeld der NATO allerdings durch den11. September 2001 erneut erschüttert. Das Bündnis bewies großeReaktionsschnelligkeit und anhaltenden Respekt für den Grundsatzder kollektiven Sicherheit, indem es zum ersten Mal in seinerGeschichte Artikel 5 in Kraft setzte und dann zur Sicherung desLuftraums über amerikanischen Großstädten AWACS-Flugzeugebereitstellte. Im Mai 2002 bekundeten die Außenminister derNATO-Staaten auf ihrer Tagung in Reykjavik (Island) erneut förmlichihre Entschlossenheit, überall Truppen einzusetzen, wo es nötigsei, um Gefahren für die Sicherheit des Bündnissesentgegenzutreten. Und 2002 plante man in der NATO-Zentrale währenddes ganzen Jahres mit größter Sorgfalt ein umfassendesMaßnahmenpaket für organisatorische Veränderungen und den Ausbauder Fähigkeiten, das dann im November des gleichen Jahres auf demPrager Gipfel von den Staats- und Regierungschefs derBündnismitglieder verabschiedet wurde; es umfasste u.a. den Aufbauder NATO-Reaktionskräfte (NRF – NATO Response Force), dieNeuordnung der strategischen Kommandos und die Annahme derModernisierungsprogramme im Rahmen der Prager Verpflichtung zuVerteidigungsfähigkeiten. Last, not least lud das Bündnis siebenStaaten zum NATO-Beitritt ein und vereinbarte begleitendeReformmaßnahmen hinsichtlich der Strukturen und Verfahren derZentrale, die für ein reibungsloses Funktionieren derNordatlantikrats „mit 26“ erforderlich waren.

Zweieinhalb Jahre später lässt sich für die Umsetzung der PragerAgenda eine insgesamt positive Bilanz ziehen, obwohl mancheProgramme etwas hinter dem Zeitplan liegen. Erstens hat sich derNordatlantikrat „mit 26“ nicht als unhantierbar erwiesen.Wie der tschechische NATO-Botschafter Karel Kovanda im Oktober 2003während eines Vortrags im Marshall-Zentrum (Deutschland) erklärte,ist ein allgemeiner Konsens „praktisch sicher“, wenn sich die vieroder fünf NATO-Staaten mit diesen oder jenen wichtigen Interessenuntereinander einigen können, gleichviel ob die Gesamtzahl derBündnispartner 19 oder 26 beträgt. Zweitens ist die NATO weiterhinentschlossen, „neue Missionen überall’“ durchzuführen, wo es dieGefahrenlage erfordert, und diese Entschlossenheit ist sogar nochgrößer geworden; deutlich wurde dies durch den auf dem IstanbulerGipfeltreffen gefassten Beschluss, den Aufgabenbereich der ISAF(International Security Assistance Force) in Afghanistan zuerweitern, sowie durch die vor kurzem in Brüssel erzielte Einigungaller 26 Bündnispartner, in dieser oder jener Form einen Beitragzur Ausbildungsmission in Irak zu leisten. Drittens kommt im Erfolgder NATO hinsichtlich der Einrichtung des neuen AlliiertenKommandos für Fragen der Umgestaltung sowie hinsichtlich dervorzeitigen Erreichung der ersten Stufe der Einsatzbereitschaft derNRF zum Ausdruck, dass die militärischen Stellen des Bündnissesvorbildliche Führungsarbeit geleistet haben.

Im Hinblick auf neue Fähigkeiten wie strategische See- undLufttransportmöglichkeiten, Luftbetankungspotentiale und dieBodenüberwachungsprogramme des Bündnisses ist die Bilanz wenigereindeutig und nicht so positiv, auch wenn zweifellos einigeFortschritte zu verzeichnen sind. Die unter norwegischer Führungeingeleitete Initiative auf dem Gebiet des strategischenSeetransports ist gut vorangekommen, wobei dänische und britischeSchiffe nun für Einsätze verfügbar sind und auch von anderengenutzt werden können. In Istanbul unterzeichneten dieVerteidigungsminister eine Vereinbarung, der zufolge das unterdeutscher Führung eingeleitete Projekt zur Verbesserung derstrategischen Lufttransportmöglichkeiten sicherstellen soll, dassauf Anforderung nach dem Charterprinzip mit Hilfe von bis zu sechsTransportflugzeugen des Typs An-124-100 Ende dieses Jahres eineoperative Lufttransportfähigkeit für übergroßes Gerät vorhandenist. Unter der Führung Spaniens hat zudem die NATO-Arbeitsgruppefür Luftbetankung ihre Planungsarbeit fortgesetzt. DieBodenüberwachung des Bündnisses scheint kurz vor dem Übergang zurPlan- und Entwicklungsphase zu stehen (was voraussetzt, dass diederzeitigen Bemühungen um eine Risikominderung unterstützt und vonden Teilnehmerstaaten angemessen finanziert werden). Die NATO hatnach dem Prager Gipfel auch eindeutige Fortschritte bei derAusrüstung ihrer Luftstreitkräfte mit präzisionsgelenktenKampfmitteln, bei der gezielten Ausrichtung ihrer Bemühungen umRüstungszusammenarbeit auf den Bereich der Terrorismusabwehr undbei der Verabschiedung eines ersten Plans für eine Fähigkeit derNATO auf dem Gebiet der taktischen Raketenabwehr erzielt.

In der Mehrzahl der Fälle sind wir jedoch von den geplanten Datenfür die „erste Verfügbarkeit“ dieser entscheidenden strategischenGrundfähigkeiten noch Jahre entfernt, und auch ein Großteil derfinanziellen Ressourcen ist noch nicht vorhanden. Da dieNATO-Mitglieder (einschließlich der Vereinigten Staaten) ihreVerteidigungsausgaben in zunehmenden Maße für Operationen undWartungsaufgaben im Zusammenhang mit der Ausweitung globalerEinsätze bereitstellen, führt diese Priorität zudem zu einem Abzugvon Mitteln, die sonst für die eher langfristigenModernisierungsprogramme im Rahmen der Prager Verpflichtung zuVerteidigungsfähigkeiten bestimmt wären. Darüber hinaus bedeutendie akuten Schwierigkeiten mit der Fortführung der zahlreichenKrisenreaktionsoperationen der NATO, die einen Großteil der Zeitund Aufmerksamkeit des Personals in der Bündniszentrale erfordern,dass die wichtigsten langfristigen Modernisierungsprogramme derPrager Verpflichtung nicht mehr so eingehend vom Nordatlantikratgeprüft werden wie in der Zeit, als Lord Robertson ständig seine –wie er es nannte – „ganz eigene Art der politischenElektroschock-Therapie“ einsetzte, um die Mitgliedstaaten zuzwingen, auf seine Mahnrufe bezüglich „Fähigkeiten, Fähigkeiten,Fähigkeiten“ zu reagieren.

Die Agenda von Norfolk

Im April letzten Jahres forderte NATO-Generalsekretär Jaap de HoopScheffer auf einer Tagung im Hauptquartier des Alliierten Kommandosfür Fragen der Umgestaltung zu einer Debatte über verschiedenePunkte auf, die er inzwischen als „Agenda von Norfolk“ bezeichnet.Diese möglichen Veränderungen der Verteidigungsplanung, desStreitkräfteaufwuchses und der Regelungen für die gemeinsameFinanzierung sind seiner Ansicht nach erforderlich, um „dasMissverhältnis zwischen unseren wiederholten ehrgeizigenErklärungen und unserer Fähigkeit zum Einsatz der nötigen Truppenvor Ort“ zu beseitigen und ein Streitkräfteaufwuchsverfahren zuverbessern, das „einfach nicht mehr funktioniert“. Im Oktober 2004war er wegen seiner ständigen Auseinandersetzungen mit denNATO-Staaten über einen Hubschrauber hier und eineUnterstützungseinheit dort recht entmutigt und wies in einer Redevor Vertretern des amerikanischen Streitkräftekommandos Europawarnend darauf hin, dass „das Damoklesschwert über unserenOperationen und über der Zukunft der NATO hängt, wenn dieBündnispartner nicht dazu in der Lage und gewillt sind,Streitkräfte dieser Art für NATO-Missionen bereitzustellen.“

Im Rahmen der Agenda von Norfolk berief die NATO im November 2004die erste Konferenz zum Thema „Globaler Streitkräfteaufwuchs“ einund versuchte, die Verpflichtungen der einzelnen Staaten imHinblick auf die verschiedenen NRF-Ablösungen mit denVerpflichtungen hinsichtlich der Krisenreaktionsoperationen inAfghanistan, Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo zuvereinbaren. Die Gespräche der Exekutivarbeitsgruppe über eineVerbesserung der Vorhersehbarkeit nationaler Beiträge zuNATO-Streitkräften sind intensiviert worden. Der Vorsitzende desMilitärausschusses, General Harald Kujat, hat zudem ein Dokumentmit dem Titel Umfassender Ansatz vorgelegt, das ausmilitärischer Sicht darlegen soll, wie sich die Planung in denBereichen Verteidigung, Einsatzführung, Nachrichtendienste undRessourcen am besten rationalisieren lässt.

Die NATO war schon seit dem Zusammenbruchder Sowjetunion vor eineinhalb Jahrzehnten mit einem„Umgestaltungsimperativ“ konfrontiert.

Zu den anderen Optionen hinsichtlich desStreitkräfteaufwuchses, die im Rahmen der Agenda von Norfolkgeprüft werden, zählen folgende Maßnahmen: Einholung der operativenPlanungsoptionen und deutlicherer Aussagen zur Bereitschaft dereinzelnen NATO-Mitglieder im Hinblick auf die Bereitstellungbestimmter Fähigkeiten, bevor sich das Bündnis bei einerKrise oder in einem Konflikt politisch zu einer Interventionverpflichtet; Entwicklung besserer Verwendbarkeits- undErgebnisziele zur Bewertung der Fähigkeit eines Staates, seineTruppen bei Krisenreaktionsoperationen wirksam einzusetzen;Verlängerung des zeitlichen Rahmens von Truppenzusagen auf zweiJahre, um eine bessere Berechenbarkeit zu erreichen; die Einführungder Regel, dass Staaten ihren Beitrag förmlich beenden müssen,statt dass man von ihnen mehrere kurzfristige Zusagen von Truppenoder Ausrüstung für eine bestimmte Krisenreaktionsoperationerwartet, und schließlich die Errichtung neuer multinationalerStrukturen für Stabilisierungsaufgaben nach einem Konflikt.

Bezüglich der Reform der gemeinsamen Finanzierung hat derGeneralsekretär zu einer Debatte über den Vorschlag aufgefordert,die gemeinsamen Militäretats (das NATO-Programm fürSicherheitsinvestitionen und den Militärhaushalt) zu erhöhen undsie für die eher operativen Aspekte der derzeitigen NATO-Missionenzu verwenden, verstärkt auf das Outsourcing zurückzugreifen, dieNotfallfinanzierung der NATO in die Verteidigungshaushalte dereinzelnen Mitgliedstaaten einzubeziehen und „AWACS-ähnliche“NATO-Strukturen und -Haushalte für die Bereiche Logistik,Sanitätsdienste und Hubschraubertransport einzurichten.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es zweifellos zu früh, die Fortschrittehinsichtlich der Agenda von Norfolk beurteilen zu wollen. Auf einerReihe von Gebieten lassen die ersten Gespräche allerdings rechtgroße Schwierigkeiten erkennen, insbesondere im Hinblick auf dieÜberarbeitung und Ausweitung der Berechnungsregeln für dasNATO-Programm für Sicherheitsinvestitionen sowie für denMilitärhaushalt (wo u.a. eine scheinbar unüberwindbare Uneinigkeithinsichtlich der Kostenbeiträge der einzelnen Staaten einWeiterkommen verhindert) und auch im Hinblick auf das Problem, dieBündnispartner dazu zu bewegen, der NATO erheblich mehrInformationen über ihr jeweiliges Streitkräftedispositiv zurVerfügung zu stellen.

Die Agenda von München

Am Ende ihrer Februartagung in Brüssel bekannten sich die Staats-und Regierungschefs der NATO-Staaten zu dem Ziel, „die Rolle derNATO als Forum für strategische und politische Konsultationen undzur Abstimmung unter den Bündnismitgliedern zu stärken“ und dabei„ihren Platz als das wesentliche Forum fürSicherheitskonsultationen zwischen Europa und Nordamerika“ zubekräftigen.

Diese Initiative stand am Ende einer kurzen, aber intensivenKonsultationsrunde, die zehn Tage zuvor auf der Münchener Konferenzzur europäischen Sicherheitspolitik durch die schriftlicheIntervention Bundeskanzler Gerhard Schröders eingeleitet worden war(in Abwesenheit des erkrankten Kanzlers vorgetragen vom deutschenVerteidigungsminister Peter Struck). Mit der Behauptung, die NATOsei nicht mehr der primäre Ort für die Erörterung und Koordinierungvon Strategien der transatlantischen Partner, sowie durch denVorschlag, als Beitrag zur Lösungsfindung ein hochrangiges Gremiumunabhängiger Persönlichkeiten beider Seiten des Atlantikseinzurichten, um künftige Krisen in der Art der Irak-Krise zuverhindern, hatte der deutsche Bundeskanzler dort für Schlagzeilengesorgt und eine gewisse Irritation bei einigen hochrangigenVertretern der NATO wie auch der Vereinigten Staaten ausgelöst, dievon diesem Vorstoß überrascht wurden.

In der sich daran anschließenden Debatte waren deutscheRegierungsvertreter sehr bemüht, hervorzuheben, dass derBundeskanzler die NATO nicht feierlich zu Grabe getragen habe,sondern sie stärken wollte. Die Vertreter der NATO und derVereinigten Staaten tendierten ihrerseits zu einer Unterscheidungzwischen dem Vorschlag bezüglich eines „externen Gremiums“ (den sieablehnten) und der zugrundeliegenden substantiellen Kritik.Schließlich bestand kein Zweifel daran, dass die VereinigtenStaaten die NATO nicht als primäres Forum für die Erörterung undKoordinierung grundlegender strategischer Entscheidungen nutzenwollten, wie z.B. hinsichtlich der Frage, wie und wo die Talibanund die Al Qaida in Afghanistan anzugreifen seien, oder bezüglichder Frage, wie viel Zeit man dem Inspektionsprozess desVN-Sicherheitsrats geben solle, bevor man Irak den Krieg erklärte.Der Nordatlantikrat war auch nicht das wichtigste Forum fürstrategische Konsultationen zwischen den Vereinigten Staaten undihren NATO-Partnern, als es um Themen von so hoher Priorität gingwie Maßnahmen gegen den Erwerb nuklearer Waffen durch Iran oder dieAbsicht der EU zur Aufhebung des gegen China verhängtenWaffenembargos.

Im Grunde stellte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Frage, obnicht alle in Prag und Norfolk eingeleiteten Umgestaltungsreformennutzlos wären, wenn das Bündnis nicht dazu in der Lage sei, bei derstrategischen Entscheidungsfindung vor einem Konflikt als echtePartnerschaft zu fungieren. Somit stellte er nicht nur denAusspruch Charles de Gaulles auf den Kopf – „Welchen Sinn hat diestrategische Planung, wenn die Mittel zur Durchführung der Plänenicht bereitgestellt werden?“ –, sondern brachte auch dieEnttäuschung über die Qualität des politischen Dialogs in der NATOzum Ausdruck, auf die zuvor schon andere führende europäischePolitiker öffentlich hingewiesen hatten, darunter auchGeneralsekretär Jaap de Hoop Scheffer selbst.

Als man sich dann zum Brüsseler Gipfeltreffen versammelt hatte,waren alle Seiten entschlossen, die positiven Aspektehervorzuheben. So erklärte der amerikanische Präsident George W.Bush auf einer Pressekonferenz am Tag nach dem Gipfel: „Ich habedie Kommentare so verstanden, dass er eine NATO will, die relevantist und ein Forum für einen sinnvollen strategischen Dialogdarstellt. Und das war allen am Verhandlungstisch völlig klar. Unddie Sitzung endete damit, dass Jaap de Hoop Scheffer allenerklärte, er werde sich demnächst mit einem Plan melden, dersicherstellen soll, dass der strategische Dialog in der NATOwirklich von Bedeutung ist.“

Die Einigung auf die Erarbeitung eines Plans ist natürlich eineSache. Eine andere Sache ist es, einen Konsens hinsichtlich derBedingungen für eine freie politische Debatte zu erreichen.Diejenigen europäischen NATO-Staaten, die traditionell am wenigstendazu bereit waren, dem Nordatlantikrat die Erörterung von Themen zuerlauben, die sie ausschließlich als Sache der EU begriffen (wieGalileo oder das Waffenembargo gegen China), werden nun ihrerseitsakzeptieren müssen, was früher als „Einmischung“ der NATObetrachtet worden wäre. Und auf der anderen Seite werden dieVereinigten Staaten Mittel und Wege finden müssen, um strategischeFragen im Nordatlantikrat anzusprechen, die noch zwischen denzuständigen amerikanischen Behörden zu vereinbaren und vor allemnoch vom Kongress zu prüfen sind. Trotzdem stellen echteKonsultationen mit den Bündnispartnern im Gegensatz zu einer bloßenUnterrichtung über bereits gefasste Beschlüsse keine größere odergeringere Herausforderung dar als die, mit der jede amerikanischeRegierung unweigerlich konfrontiert ist, wenn sie mit dem Kongressoder auch mit den wichtigsten Partnern in einem Bündnis von zumEingreifen gewillten Staaten eine echte Partnerschaft erreichenwill.

Weitere Anstrengungen

Heute wird die NATO von den führenden Vertretern ihres mächtigstenMitglieds auf der einen Seite als „aktiver denn je“, als „daserfolgreichste Bündnis der Geschichte“ und als „die entscheidendePartnerschaftsstruktur für die Vereinigten Staaten imSicherheitsbereich“ anerkannt. Die NATO kann auf ihren Erfolg beider Ausweitung ihres Mitgliederkreises, bei der Umstrukturierungihrer Kommandos und Hauptquartiere, bei der Ausweitung ihrerOperationen und ihres Operationsradius und bei Fortschritten aufdem Weg zur Modernisierung ihrer Fähigkeiten im Hinblick auf dieBewältigung neuer Bedrohungen und Sicherheitsgefahren zu Recht miteinigem Stolz hinweisen.

Auf der anderen Seite ist man weiterhin sehr besorgt über dieGefahr eines Scheiterns der NATO. Vom Generalsekretär bis zu denunteren Ebenen beklagt die Organisation das Missverhältnis zwischendem Willen der Bündnismitglieder, neue Missionen zu übernehmen undneue Fähigkeiten zu erwerben, einerseits und andererseits demWillen, das Personal, die Ausrüstung und die Ressourcenbereitzustellen, die für solche Missionen und Dispositiveerforderlich sind. In beiden Fällen fragen sich die Kritiker – undnicht nur sie –, ob der nötige politische Wille wirklich vorhandenist. Zudem traf Bundeskanzler Gerhard Schröder offensichtlich einenwunden Punkt, als er öffentlich auf die verminderte Relevanz derNATO als eines Forums für eine echte transatlantischeEntscheidungsfindung in Fragen von übergreifender strategischerBedeutung hinwies.

Doch die NATO wird sich weiter vorankämpfen – wie sie es immergetan hat. Man kann darauf setzen, dass die NATO alsunerlässliches Sicherheitsbündnis der transatlantischenStaatengemeinschaft weiterhin in guter Absicht und mit gemeinsamerZielsetzung auf die Umsetzung ihrer drei Umgestaltungsprogramme –von Prag, von Norfolk und von München – hinarbeiten wird, wenn auchmit Unterbrechungen und gelegentlichen Fehlschlägen. Hier stehtviel auf dem Spiel.

Robert G. Bell war von 1999-2003 beigeordneterNATO-Generalsekretär mit Zuständigkeit fürVerteidigungsinvestitionen und ist nun in Brüssel in führenderPosition für das amerikanische Unternehmen SAIC (ScienceApplication International Corporation) tätig.

* Die Türkei erkennt die Republik Mazedonien unter ihrem verfassungsmäßigen Namen an.