Sollte die NATO eine politischere Rolle spielen?

Debatte: "Sollte die NATO eine politischere Rolle spielen?"

  • 01 Jan. 2005 - 01 January 0001
  • |
  • Last updated 04-Nov-2008 02:08

Espen Barth Eide leitet die Abteilung „Internationale Politik“ am norwegischen Institut für internationale Angelegenheiten in Oslo.

-

Frédéric Bozo ist Professor an der Universität Nantes und leitender Forscher am Pariser Institut français des relations internationales , wo er sich auf die transatlantischen Beziehungen spezialisiert hat.

Lieber Frédéric,

da das transatlantische Irakdrama nun anscheinend hinter uns liegt, ist es an der Zeit, eine vernünftige Debatte über die künftigen Beziehungen zwischen Europa und Nordamerika sowie über die Rolle zu führen, die der NATO in diesem Zusammenhang zukommt. Die Äußerungen Bundeskanzler Gerhard Schröders auf der Münchener Sicherheitskonferenz (der ehemaligen „Wehrkundetagung“) im Februar d. J. und die sich daran anschließenden Kommentare von beiden Seiten des Atlantiks haben die Frage nach dem heutigen Zweck des Bündnisses in den Vordergrund treten lassen. Das ist gut so, denn es ist im Interesse aller Beteiligten, dass dies eine transparente, umfassende und konstruktive Debatte wird. Die transatlantischen Beziehungen des 21. Jahrhunderts werden sich zweifellos von denen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheiden, aber „anders“ muss ja nicht „schlechter“ bedeuten.

-

Die NATO ist ein äußerst erfolgreiches Bündnis, das sich in einer Identitätskrise befindet, aus der es wahrscheinlich nicht so schnell herauskommt. Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass das Bündnis seine Daseinsberechtigung hinterfragt. Der Austritt Frankreichs aus der integrierten militärischen Struktur der NATO (1966) war ein Schritt von ähnlich großer Bedeutung, der ein Jahr später zum Harmel-Bericht über die künftigen Aufgaben des Bündnisses führte. Vor fünfzehn Jahren löste der Zusammenbruch sowohl des Warschauer Paktes als auch der Sowjetunion eine Debatte über die Frage aus, ob ein politisch-militärisches Bündnis als Bindeglied zwischen Europa und Nordamerika noch erforderlich sei. Diese Debatte führt zu dem Beschluss, außerhalb des NATO-Gebiets („out-of-area“) aktiv zu werden (statt alle Aktivitäten einzustellen), so dass das Bündnis während des größten Teils der 90er Jahre mit drei großen Projekten an der Schnittstelle zwischen dem politischen und dem militärischen Sektor beschäftigt war. Dazu zählten die Operationen zur Wahrung und Durchsetzung des Friedens auf dem Balkan, die Vorbereitung einer Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten auf die Mitgliedschaft in der NATO und somit in der transatlantischen Staatengemeinschaft insgesamt und schließlich die Aufgaben im Zusammenhang mit der Rolle der NATO als eines Forums zur Abstimmung der Reaktionen auf Ereignisse in Russland. In Verbindung mit der unveränderten Rolle der NATO als eines Sicherheitsgaranten war dies mehr als zehn Jahre lang Antwort genug auf die Frage nach dem Warum der NATO. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass alle drei Projekte in direktem Bezug zu Europa standen und dass sich die Vereinigten Staaten weiterhin auf das europäische Sicherheitsumfeld konzentrierten.

-

Daher haben die Rahmenbedingungen nach dem 11. September 2001 den Zweck der NATO stärker in Frage gestellt als das Ende des Kalten Krieges. Die Infragestellung begann mit den Operationen in Afghanistan, ergab sich allerdings nicht aus einer Unstimmigkeit innerhalb der NATO. Es war sogar ganz im Gegenteil so, dass wir – wie es die französische Tageszeitung Le Monde ausdrückte – damals „alle Amerikaner“ waren. Das Problem war eher, dass man sich irrelevant fühlte. Da die NATO als Reaktion auf den 11. September zum ersten Mal Artikel 5 in Kraft gesetzt hatte, waren amerikanische Äußerungen, wonach die Mission ausschlaggebend für die Zusammensetzung eines zum Eingreifen gewillten Staatenbündnisses war, nämlich genau das Gegenteil von dem, was europäische Atlantiker hören wollten. Es dauerte fast zwei Jahre, bis die NATO in größerem Umfang Truppenkontingente für Afghanistan zur Verfügung stellte. Dem war die Irakkrise und eine tiefgreifende Meinungsverschiedenheit sowohl über die Rolle der NATO bei der Verteidigung der Türkei als auch über die Legitimität des Krieges an sich vorausgegangen.

Das Bündnis muss wieder ein Forum für einen offenen Dialog über die wichtigsten Fragen werden, mit denen es sich auseinander zu setzen hat.

Der Ton der Debatte hat sich seither grundlegend geändert. Weder in Washington noch in irgendeiner europäischen Hauptstadt will man die Erfahrungen der letzten zwei bis drei Jahre noch einmal machen. Die jüngsten Europareisen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush und der Außenministerin Condoleezza Rice – wie auch der Empfang der ihnen zuteil wurde – ließen den Wunsch beider Seiten erkennen, Einheit und geschlossenes Engagement zu demonstrieren. Doch die Einzelheiten eines neuen „Konsenses“ sind noch unklar, und man ist noch nicht über die Beteuerung seines guten Willens hinausgekommen.

Meiner Ansicht nach sind wir heute mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Erstens brauchen wir eine realistische Einschätzung der Rolle des Bündnisses unter den neuen politischen Rahmenbedingungen, und zweitens brauchen wir eine erneute Politisierung des Bündnisses und dürfen nicht zulassen, dass die NATO zu wenig mehr als einem militärischen „Werkzeugkasten“ verkümmert.

Der Ausgangspunkt für Überlegungen zur Rolle der NATO ist die Erkenntnis, dass sich die politische Landschaft Europas grundlegend geändert hat. Die Europäische Union ist nun ein eigenständiger Akteur auf der Bühne der internationalen Sicherheitspolitik. Eine immer ehrgeiziger werdende EU erweitert derzeit sogar ihre Werkzeuge der „sanften Gewalt“ um einige militärische Fähigkeiten. Zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten werden noch viele transatlantische Debatten stattfinden müssen – schon allein deswegen, weil die Tagesordnung der Gespräche umfassender sein muss als im Rahmen des eher klassischen Sicherheitsforums, das die NATO bietet. Zahlreiche entscheidende Fragen der derzeitigen internationalen Tagesordnung – Maßnahmen gegen die mutmaßlichen nuklearen Ambitionen Irans, Pläne zur Aufhebung des gegen China verhängten Waffenembargos und die Notwendigkeit, Afrika bei der Bewältigung seiner zahlreichen komplexen Krisen zu unterstützen – verlangen vielschichtige Lösungsstrategien. Die Atlantiker sollten aufhören, darüber zu jammern. Versuche, die NATO als Instrument zur Schwächung der politischen Ambitionen der Europäischen Union einzusetzen, sind zum Scheitern verurteilt. Die Förderung der politischen Weiterentwicklung der Europäischen Union in Verbindung mit Bemühungen um eine dynamische Sicherheitspartnerschaft mit der NATO ist dagegen der Kurs, den wir einschlagen sollten. Die NATO wird auch dann noch viel zu tun haben. Das Bündnis ist nämlich unverändert das natürlichste Forum für ein breites Spektrum von Aufgaben – von der Koordinierung militärischer Instrumente bis zur strategischen Debatte der beiden Stützpfeiler des Westens über gemeinsame Sicherheitsgefahren. Überdies sollte sich die NATO bemühen, auch weiterhin ein derartiges Forum darzustellen – in der Erkenntnis, dass dies der Beitrag des Bündnisses zu einer umfassenderen transatlantischen Sicherheitsarchitektur sein sollte.

Dies erfordert eine „erneute Politisierung“ der NATO. Das Bündnis muss wieder ein Forum für einen offenen Dialog über die wichtigsten Fragen werden, mit denen es sich auseinander zu setzen hat. Ein echter transatlantischer Dialog über den Umgang mit dem Terrorismus ist z.B. dringend erforderlich, gerade weil die Bündnispartner unterschiedliche Ansichten in der Frage vertreten, wie man dieser gemeinsamen Bedrohung entgegentreten sollte. Die NATO wird beispielsweise wahrscheinlich auch in Afghanistan und im Kosovo aktiv bleiben und weiterhin das militärische Fundament künftiger multilateraler Friedensmissionen bilden. Wo und auf welche Weise man eingreift, das wird vielleicht umstritten sein. Daher sollten sich diesbezügliche Beschlüsse auf einen breiteren politischen Konsens innerhalb des Bündnisses stützen können, als es derzeit der Fall ist. Und in den Fällen, in denen das Bündnis das militärische Rückgrat umfassenderer internationaler Friedensmissionen bildet, muss es besser in die übergreifenden politischen Prozesse hinsichtlich der politischen Zukunft der betroffenen Akteure eingebunden werden. Auch dies verlangt eine politischere NATO und eine Verstärkung der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, einschließlich der Vereinten Nationen.

Die Herausforderung für die NATO besteht nicht nur darin, ihr Überleben zu sichern – niemand schlägt ernsthaft vor, sie solle zu Grabe getragen werden –, sondern auch darin, ein zentraler Akteur und ein zentrales Forum hinsichtlich genau desjenigen Bereichs zu bleiben, in dem sie sich bereits als so effizient bewährt hat. Doch ihre Effizienz wird die NATO nur wahren können, wenn sich die Bündnispartner auf ein gemeinsames politisches Verständnis ihrer Rolle einigen können. Es gibt keinen gemeinsamen Gegner, der an die Stelle der früher vom Kommunismus bzw. von der Sowjetunion ausgehenden Bedrohung getreten wäre. Der „Terrorismus“ hat nicht diese Wirkung. Stattdessen ist das Bündnis heute Ausdruck der unveränderten Relevanz des „Westens“ auf der Bühne der internationalen Sicherheitspolitik. In einem erneuerten politischen Forum der transatlantischen Partner müssen wir jedoch mit weiterer Uneinigkeit rechnen. Es geht nicht darum, vorzutäuschen, dass es keine Meinungsverschiedenheiten gibt, sondern darum, sich mit ihnen auseinander zu setzen und sie zielstrebig zu lösen.

Mit freundlichen Grüßen

Espen

Lieber Espen,

es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass sich die NATO-Staaten im Vorfeld des Irakkrieges auf Kollisionskurs befanden. Eine Staatengruppe unter der Führung des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten beschuldigte die andere (unter der Führung Frankreichs und Deutschlands), die Verpflichtung zur kollektiven Verteidigung, also den Eckstein des Bündnisses, mit Füßen zu treten. Es ging, wie man sich erinnert, um die Verteidigung der Türkei. Die letztere Gruppe beschuldigte dagegen die erstgenannte, die Grundlagen der kollektiven Sicherheit, auf die sich dieses Bündnis stützt, zu zerstören. Die Frage lautete natürlich, ob man bereit war, ohne die Genehmigung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen einen Krieg zu führen. Das Überleben des Bündnisses und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen standen auf dem Spiel.

Natürlich hat sich die NATO inzwischen von dieser Krise erholt. Auf dem Istanbuler Gipfel (Juni 2004) waren die Wunden bereits im Wesentlichen verheilt. Doch im Gegensatz zu den meisten früheren NATO-Krisen hat die Irakkrise nicht – jedenfalls bisher nicht – zu einem Neuanfang geführt, wie z.B. im Fall des Harmel-Berichts nach dem Austritt Frankreichs aus der integrierten Militärstruktur. Das Bündnis scheint heute vielmehr wirklich unter einer Anämie zu leiden. Die Symptome sind für alle deutlich sichtbar. Die NATO hatte Schwierigkeiten, die Bündnisstaaten dazu zu bewegen, ihren Streitkräftezusagen sowohl im Hinblick auf die ISAF als auch hinsichtlich der Ausbildung irakischer Streitkräfte nachzukommen. Die Rolle des Bündnisses im Rahmen der Initiative gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten ist nach wie vor kaum mehr als ein schöner Slogan. Schließlich, und das wiegt vielleicht noch schwerer, ist das Bündnis, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder es ausdrückte, nicht mehr „der primäre Ort“ zur Erörterung und Koordinierung von Strategien der NATO-Mitglieder.

Wird hier nichts unternommen, so besteht die Gefahr, dass die Anämie zu einer schlimmeren Krankheit und schließlich nach einiger Zeit zum Tod führt. Da dies niemand will, am wenigsten die Franzosen, die zu den engagiertesten NATO-Mitgliedern zählen, wenn es um Beiträge zu den NATO-Reaktionskräften oder um die Ernennung hochrangiger Offiziere für militärische Schlüsselpositionen geht, muss also etwas unternommen werden.

-

Ist die Politisierung, wie Sie und einige andere meinen, die richtige Medizin, und würde eine politischere Rolle der NATO das Bündnis mit neuem Leben erfüllen? Befasst man sich mit der Geschichte der NATO, so mag dieser Gedanke durchaus in die richtige Richtung weisen. Früher hat eine Politisierung der NATO in entscheidenden Augenblicken die Lösung für eine unterschwellige oder akute Krise geboten. Neben der Harmel-Studie erinnert man sich an den Bericht der drei Weisen , der nach der Sueskrise verfasst wurde. In beiden Fällen ging es darum, die NATO „politischer“ zu machen, um ihre angeschlagene Legitimität und den inneren Zusammenhalt zu stärken.

Erst als die NATO in Bosnien und Herzegowina intervenierte, konnte das Bündnis seinen Anspruch auf eine zentrale Rolle im euro-atlantischen Sicherheitsumfeld durchsetzen.

In der jüngeren Vergangenheit, d.h. in den 90er Jahren, ging die erfolgreiche Wiederbelebung des Bündnisses von dem Gedanken aus, dass die NATO ohne die Bedrohung durch die Sowjetunion wegen ihrer verminderten militärischen Bedeutung politischer werden müsse. Da die NATO nicht mehr gebraucht wurde, um die Verteidigung Europas vorzubereiten, rechtfertigte sie ihre weitere Existenz, indem sie umfassendere Aufgaben hinsichtlich der Sicherheit Europas übernahm und somit nach dem Ende des Kalten Krieges einen Beitrag zur Stabilität dieses Kontinents leistete.

Diese Strategie schien zu funktionieren, und in der Mitte der 90er Jahre erlebte die NATO, die nicht – wie viele erwartet hatten – nach dem Ende des Kalten Krieges langsam dahinschied, eine erneute Blüte und behauptete sich wieder als der Eckstein der Sicherheit Europas. Man muss jedoch einmal genauer untersuchen, wodurch diese unerwartete Wiederbelebung möglich wurde. Bis zum Herbst 1995 wurde die Relevanz der „neuen“ Sicherheitsmissionen der NATO und somit deren Zukunft als eines vitalen Bündnisses vor dem Hintergrund der Meinungsverschiedenheiten und der Tatenlosigkeit angesichts der Kriege im ehemaligen Jugoslawien sehr stark in Frage gestellt. Erst als die NATO in Bosnien und Herzegowina intervenierte und dann zur Beaufsichtigung des Friedensprozesses die IFOR entsandte, konnte das Bündnis seinen Anspruch auf eine zentrale Rolle im euro-atlantischen Sicherheitsumfeld durchsetzen. Diese Position wurde zudem drei Jahre später durch die Intervention im Kosovo noch verstärkt.

-

Das Fazit lautet aus meiner Sicht, dass die Zukunft der NATO erst gesichert war, als die Bündnismitglieder ihre anhaltende Überlebensfähigkeit als militärisches Instrument in einem neuen strategischen Umfeld unter Beweis stellten, indem sie Krisensituationen bewältigten, die sich außerhalb des Bündnisgebiets ergaben und nicht unter Artikel 5 fielen. Ohne diesen Nachweis hätte der damalige Versuch, die Organisation durch eine „Politisierung“ zu erneuern, lediglich zur Bildung eines Debattierklubs geführt.

Heute besteht das Problem der NATO darin, dass ihr Nutzen oder zumindest ihre zentrale Stellung – vor allem in militärischer Hinsicht – von ihren Mitgliedern nicht mehr als unumstrittene Tatsache betrachtet wird. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Die erste ist keinesfalls ein neues Phänomen. Die Vereinigten Staaten halten die NATO im Hinblick auf die Durchführung militärischer Operationen – selbst bei Operationen unter amerikanischer Führung – nicht mehr für die Institution der Wahl. Dies ist schon seit den Operationen im Kosovo klar gewesen; die Erfahrungen dort haben das Militär der Vereinigten Staaten nicht gerade erfreut. Die Art und Weise, wie Washington im Herbst 2001 während der Operationen in Afghanistan Unterstützungsangeboten der Bündnisstaaten auswich, haben diesen Sachverhalt nur bestätigt.

Der zweite Faktor wird langsam deutlicher erkennbar und ist weitgehend die Folge des ersten. Die Europäer zögern immer mehr, Streitkräfte bereitzustellen, wenn die Vereinigten Staaten eine dominierende Rolle spielen und selbst kaum Truppen zur Verfügung stellen; dies wurde z.B. bei der ISAF in Afghanistan deutlich. Daher erklärt sich das große Interesse der Europäer daran, die Europäische Union im Hinblick auf Operationen als potentielle erste Wahl zu stärken und in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien*, in Bosnien und Herzegowina sowie früher oder später auch im Kosovo die Führung zu übernehmen.

Wenn sich die jetzigen Tendenzen fortsetzen, läuft die NATO Gefahr, zu einer leeren Hülse zu werden, weil sie der sich neu herausbildenden Struktur der transatlantischen Beziehungen, die das Ergebnis der amerikanischen Distanzierung von Europa und des neuen politisch-strategischen Selbstbewusstseins Europas ist, nicht mehr gerecht wird. Das wäre natürlich eine fürchterlich falsche Entwicklung. Die NATO wird nach wie vor gebraucht, schon allein deswegen, weil Amerikaner und Europäer einander militärisch brauchen. Die Europäer brauchen weiterhin den Schutz seitens der Vereinigten Staaten, wenn auch in geringerem Ausmaß als früher, und sie brauchen auf jeden Fall amerikanische Unterstützung, wenn sie anspruchsvolle militärische Operationen durchführen wie in Bosnien und Herzegowina, wo die „Berlin-Plus-Regelungen“ gelten. Die Vereinigten Staaten brauchen dagegen das militärische Personal Europas bei Friedensoperationen, in deren Rahmen sie nur ungern Streitkräfte einsetzen wollen, wie z.B. bei der ISAF.

Dies führt meiner Meinung nach zu einer einfachen Schlussfolgerung. Während die NATO in ihrer jetzigen Form wahrscheinlich für keine der beiden Seiten weiterhin eine attraktive Rahmenstruktur darstellen kann, ist es durchaus möglich und auch dringend erforderlich, sie zu etwas umzugestalten, was wir wirklich brauchen, nämlich zu einem Instrument zur Aufrechterhaltung und Förderung der militärischen Verbindung zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten. Ich bin mir darüber im Klaren, dass dies im Bündnis ein radikales Umdenken erfordert. Doch ich bin auch davon überzeugt, dass die NATO, wenn wir nicht ernsthaft über Möglichkeiten zu ihrer Anpassung an den neuen Charakter der Beziehungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten nachdenken, einfach verschwinden wird, was der transatlantischen Staatengemeinschaft im weiteren Sinne einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen würde. Eine Politisierung der NATO ist keine Lösung und wäre kaum mehr als eine leere Parole, wenn wir nicht die grundlegenden Probleme angehen und das Bündnis somit erneut zum zentralen Forum für die strategische Koordinierung zwischen Amerika und Europa machen können. Dies wiederum bedeutet, dass dafür zu sorgen ist, dass die Verbindung zwischen der EU und den Vereinigten Staaten – insbesondere im militärischen Bereich – wirklich funktioniert.

Mit freundlichen Grüßen

Frédéric

Lieber Frédéric,

in unserer Analyse sowohl der jüngsten Geschichte als auch der jetzigen Lage stimmen wir weitgehend überein. Wir sind beide der Ansicht, dass die NATO der neuen Realität der Beziehungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten angepasst werden muss. Wir stimmen auch darin überein, dass die NATO die militärische Verbindung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiterhin als den Eckstein ihrer Daseinsberechtigung betrachten muss. Schließlich ist ein militärisches Bündnis ohne eine militärische Aufgabe kaum lebensfähig.

Unterschiedliche Ansichten scheinen wir hinsichtlich der Schlussfolgerung zu vertreten, nämlich hinsichtlich der Frage, ob die „erneute Politisierung“ der richtige Kurs ist. Sie halten dies anscheinend für wenig mehr als leeres Gerede und meinen, erforderlich sei die „strategische Koordinierung zwischen Amerika und Europa“ und ein „Instrument zur Aufrechterhaltung und Förderung der militärischen Verbindung zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten“.

Mein Hauptargument lautet, dass eine „rein“ militärische Verbindung meiner Meinung nach langfristig nicht ohne ein starkes politisches Fundament aufrechterhalten werden kann – und dass dieses politische Fundament nicht von selbst entsteht. Wir sollten nicht vergessen, dass der politische Zusammenhalt der beiden Seiten des Atlantiks während des Kalten Krieges von entscheidender Bedeutung war, auch wenn er häufig nicht offen zutage trat. Sowohl die westeuropäischen als auch die nordamerikanischen NATO-Staaten waren sich in dem Ziel einig, der mutmaßlichen sowjetischen Bedrohung durch Abschreckung entgegenzutreten, und beide Seiten stimmten auch in der Ansicht überein, dass ein amerikanisches Engagement für Europa ganz unabhängig von der Existenz einer gemeinsamen Bedrohung eine stabilisierende Wirkung habe. Somit sollte auch der Erfolg des europäischen Einigungswerks, das zur Europäischen Union führte, vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die transatlantische Sicherheitspartnerschaft trug dazu bei, die Bedingungen für eine pragmatische wirtschaftliche Integration Europas zu schaffen, da einige der politisch heikelsten Fragen andernorts erörtert werden konnten. Die NATO konnte sich auf ihre militärische Rolle konzentrieren, weil der politische Zusammenhalt von Anfang an gegeben war und durch die anhaltende gemeinsame Bedrohung aufrechterhalten wurde. Was implizit vorhanden ist und worin man allgemein übereinstimmt, wird so offensichtlich, dass es nicht wiederholt werden muss. Doch ohne dieses Bewusstsein der gemeinsamen Zielsetzung hätte es überhaupt gar keine NATO gegeben. Und selbst als sich während des Kalten Krieges Meinungsverschiedenheiten in strategischen Fragen ergaben, wurde der allgemeine politische Zusammenhalt wegen der mutmaßlichen gemeinsamen Bedrohung und der gemeinsamen Zielsetzung gewahrt.

Die NATO muss ihr politisch-militärisches Instrumentarium so verbessern, dass sowohl die NATO-Mitglieder als auch ihre Partnerstaaten das Bündnis im Hinblick auf die Herausforderungen eines neuen Jahrhunderts als relevant betrachten können.

Heute haben wir nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch die Übergangsphase nach dem Ende des Kalten Krieges hinter uns gelassen. In den letzten Jahren ist mehr als deutlich geworden, dass der politische Zusammenhalt zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nicht mehr als Selbstverständlichkeit betrachtet werden kann und dass Nostalgie allein das Bündnis nicht langfristig am Leben erhalten kann. Soll die NATO überleben – was ich sowohl hoffe als auch glaube–, so muss sie die richtige Antwort auf die Herausforderungen von heute darstellen, nicht auf die von gestern.

Jeder Einsatz militärischer Gewalt bleibt – wie schon Carl von Clausewitz sagte – „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Interventionen bei Konflikten, die für uns keine existentielle Bedrohung darstellen; dabei handelt es sich eher um langfristige Investitionen in mehr Stabilität. Gemeinsame Maßnahmen – wie derzeit in Afghanistan – müssen sich auf eine politische Vereinbarung darüber stützen, was wir erreichen wollen und wie sich unser Vorgehen in einen übergreifenden Rahmen einordnen lässt. Hier hat die NATO viel zu bieten. Neben einem System für die Bereitstellung von Truppenkontingenten hat sie ein System zur politischen Steuerung militärischer Bemühungen sowie ein Forum entwickelt, in dem gegensätzliche Meinungen zum Ausdruck gebracht und Konsensbeschlüsse herbeigeführt werden können.

In den nächsten Jahren sollte die NATO zeigen, dass sie mehr ist als ein „Zusammenschluss von zum Eingreifen gewillten Staaten“. Solche Zusammenschlüsse mögen für denjenigen Staat, der die Führung hat, attraktiv sein, zumindest wenn sich ihm jemand anschließt, aber wie die Vereinigten Staaten in Irak erfahren müssen, kann sich ein solcher Staat nicht auf langfristige Truppenzusagen stützen. Kontingente kommen und gehen dann je nach den politischen Umständen. Für weniger bedeutende Partnerstaaten sind derartige Staatenzusammenschlüsse problematisch, da ihnen in der Regel eine „ausgewogene“ politische Rahmenstruktur fehlt, so dass eine abweichende Meinung nur dadurch zum Ausdruck gebracht werden kann, dass man sich aus der Staatengruppe zurückzieht. Insbesondere für kleinere Staaten sind also multinationale Strukturen langfristig attraktiver. Die NATO kann durch ihre politische Struktur sowie dank eines zivilen Generalsekretärs und Sekretariats politischen Sachverstand beisteuern, eine politische Leitung gewährleisten sowie eine Möglichkeit bieten, den militärischen Beitrag eines Staates politisch an das von ihm unterstützte übergeordnete Ziel anzubinden.

Dies geschieht nicht von allein. Die NATO muss ihr politisch-militärisches Instrumentarium so verbessern, dass sowohl die NATO-Mitglieder als auch ihre Partnerstaaten das Bündnis im Hinblick auf die Herausforderungen eines neuen Jahrhunderts als relevant betrachten können. Nur dann wird die NATO rasch verfügbare militärische Fähigkeiten mit einer besseren Fähigkeit zur Herbeiführung eines politischen Konsenses verknüpfen können.

Mit freundlichen Grüßen

Espen

Lieber Espen,

auch ich glaube, dass die dringend erforderliche militärische Verbindung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, die eine umstrukturierte NATO gewährleisten sollte, nicht ohne ein „starkes politisches Fundament“ aufrechterhalten werden kann. Aber dann ergibt sich die Frage, welcher institutionelle Rahmen am besten geeignet ist, um diesen politischen Konsens zu fördern. Während des Kalten Krieges war die NATO wegen der Existenz einer eindeutigen gemeinsamen Bedrohung stets unumstritten das am besten geeignete institutionelle Forum. Die politische Schlüsselrolle der NATO war mit anderen Worten von ihrem enormen militärischen Wert abhängig.

Heute ist das nicht mehr so. Auch wenn wir die Möglichkeit, dass wir gemeinsam gegen einen äußeren Gegner, der eine existentielle Bedrohung darstellt, vorgehen müssen, nicht völlig ausschließen können und sollten, kann dies nicht mehr der Hauptgrund für die Existenz der NATO sein. Anders gesagt, die Bekämpfung des Terrorismus lässt sich auf funktionaler Ebene nicht mit dem Kalten Krieg auf eine Stufe stellen. Dadurch allein kann noch nicht der Zement für den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses gewährleistet werden, denn die Amerikaner und die Europäer sind in Bezug auf die Art der Bedrohung und auf die Möglichkeit ihrer Bewältigung nicht unbedingt einer Meinung. Sie vertreten sogar häufig unterschiedliche Ansichten. Seit 2001 ist dies im Hinblick auf die Krise des Bündnisses der springende Punkt.

Eine Politisierung der NATO wäre kaum mehr als eine leere Parole, wenn wir nicht die grundlegenden Probleme angehen.

Natürlich werden die meisten NATO-Staaten weiterhin die Ansicht vertreten, dass Friedensoperationen wie die der ISAF in Afghanistan auf absehbare Zeit die militärische Rolle der NATO ausmachen sollten. Folglich ist es vernünftig, die politische Dimension solcher Operationen zu stärken. Doch ich bezweifle sehr, dass eine Restfunktion der NATO im Bereich friedenserhaltender Maßnahmen, selbst wenn diese Funktion politischer würde, schon an sich eine Erneuerung der transatlantischen Beziehungen bewirken kann.

Um die politischen Grundlagen des Bündnisses zu erneuern, sollten wir uns meiner Meinung nach mit zwei weitaus schwierigeren Herausforderungen auseinander setzen. Erstens sollten wir versuchen, uns auf die Bedingungen für die Anwendung von Gewalt in denjenigen Situationen zu einigen, die nicht durch das Recht auf Selbstverteidigung abgedeckt sind. Es war ja schließlich die Uneinigkeit hinsichtlich der Legitimität – oder der Rechtmäßigkeit – präventiver militärischer Maßnahmen, die das Bündnis in der Irakfrage spaltete.

Zweitens sollten wir versuchen, uns auf die Mittel und Wege zu verständigen, mit denen wir Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbreiten wollen. Hier haben wir zwar das gleiche Ziel, aber unterschiedliche Ansichten dazu, wie wir es erreichen wollen. Da dies wahrscheinlich, wie die jüngsten Entwicklungen im Nahen/Mittleren Osten erkennen lassen, sowohl für Amerikaner als auch für Europäer weiterhin ein wichtiges Anliegen darstellen wird, müssen wir in diesem Punkt unbedingt eine Einigung erzielen, wenn wir uns – wie Sie zu Recht empfehlen – ernsthaft darum bemühen wollen, im Bündnis wieder ein Bewusstsein für unsere gemeinsamen Ziele herzustellen.

Dies werden wir nicht per Verordnung oder dadurch erreichen, dass wir die „Politisierung“ der alten NATO zur Marschroute erklären. Wir können dies nur durch einen ernsthaften, tiefgreifenden Dialog zwischen Amerika und Europa erreichen. Da das Entstehen einer geschlossen auftretenden Europäischen Union eine nicht mehr zu übersehende Tatsache ist, lautet das Fazit, dass die Erneuerung des Bündnisses nicht nur die Anpassung des militärischen Apparats der NATO an diese neue Lage, sondern auch die Herstellung einer direkten strategischen Verbindung zwischen ihren beiden wichtigsten Bestandteilen erfordert. Nur wenn wir die Mechanismen der transatlantischen Beziehungen dem strukturellen Wandel anpassen, der sich auf dem Gebiet der transatlantischen Beziehungen ergeben hat, werden wir wieder ein Bewusstsein für unsere gemeinsamen Ziele herstellen können, die das Überleben des Bündnisses gewährleisten.

Mit freundlichen Grüßen

Frédéric

Lieber Frédéric,

-

von Anfang an habe ich die Ansicht vertreten, dass die NATO keine andere Wahl hat, als sich dem rasch veränderlichen politischen Umfeld Europas anzupassen. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen steht das Erstarken der Europäischen Union und deren Entwicklung zu einem internationalen Akteur, der mit immer größerer Geschlossenheit auftritt. Die EU ist bereits eine bewährte „zivile“ Institution, aber sie verweist nun auch stolz auf einige militärische Fähigkeiten und auf Fähigkeiten bei der Bewältigung von Krisen; zudem ist die Europäische Sicherheitsstrategie die spezifische Antwort der Europäer auf die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten. Diese beiden Akteure – die Europäische Union und die Vereinigten Staaten – sind die Hauptbausteine dessen, was wir nach wie vor als den „Westen“ bezeichnen können.

Die erneute Politisierung der NATO bedeutet, dass die strategische Debatte, die innerhalb der NATO über die neuen Gefahren geführt wird, noch verstärkt werden muss.

Für mich ist wichtig, dass wir mit der NATO bereits über eine Organisation verfügen, die eine politisch-militärische Rahmenstruktur für diese erneuerte transatlantische Partnerschaft bietet und die auch eine Alternative zu Ad-hoc-Zusammenschlüssen von Staaten bildet, die zum Eingreifen bereit sind. Würde sich die NATO ausschließlich auf ihre militärischen Strukturen konzentrieren, so würde sie rasch an Ansehen verlieren und sich zu einer reinen Standardisierungsorganisation entwickeln. Für mich bedeutet die erneute Politisierung der NATO, dass die strategische Debatte, die innerhalb der NATO über die neuen Gefahren sowie über die Rolle des Bündnisses bei Missionen zur Durchsetzung und Herbeiführung des Friedens geführt wird, noch verstärkt werden muss. Ich möchte, dass die Mitgliedstaaten diesem Aspekt der Organisation sehr viel mehr Aufmerksamkeit widmen, als sie es in letzter Zeit getan haben.

Mit freundlichen Grüßen

Espen

Lieber Espen,

unsere Ansichten gehen nicht weit auseinander, und das stimmt mich hinsichtlich der Zukunft des Bündnisses optimistisch. Schließlich haben unsere beiden Länder in dieser Frage traditionell unterschiedliche Standpunkte vertreten. Wie Sie wissen, haben die Franzosen seit de Gaulles Zeiten stets sorgfältig zwischen dem Bündnis selbst – dessen Existenz von der französischen Politik nie in Frage gestellt wurde – und der organisatorischen Struktur der NATO unterschieden, die aus französischer Sicht verbessert werden musste. Während des Kalten Krieges war diese Unterscheidung für die anderen Bündnisstaaten kaum nachvollziehbar, und akzeptieren konnten die anderen Partner sie noch weniger. Mit scheint jedoch, dass dies heute anders ist, und dass die Unterscheidung heute sogar noch sinnvoller ist.

Es ist wichtig, das Bündnis so umzustrukturieren, dass sich die NATO zu einer im Wesentlichen bilateralen euro-amerikanischen Organisation entwickelt.

Heute ist es wichtiger als je zuvor, robuste, durchhaltefähige transatlantische Beziehungen aufzubauen, schon allein deswegen, weil solche Beziehungen nicht mehr als Selbstverständlichkeit betrachtet werden können. Zugleich ist es wichtig, das Bündnis so umzustrukturieren, dass sich die NATO zu einer im Wesentlichen bilateralen euro-amerikanischen Organisation entwickelt. Auf diese Weise kann die militärische Relevanz der NATO und somit auch die langfristige politisch-strategische Verbindung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten im Rahmen des transatlantischen Bündnisses gewahrt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Frédéric