Warum bleibt nukleare Abschreckung ein wichtiges Thema für NATO-Verbündete? Sind Atomwaffen im Zeitalter zunehmend leistungsfähiger konventioneller Waffen, Cyberkriegsführung und autonomer Roboter nicht ein irrelevantes Relikt des Kalten Krieges? Warum sind diese Waffen immer noch in einem friedlichen Europa stationiert?
Dies sind Fragen, die ich oft von Aktivisten, der Öffentlichkeit und aus der Presse höre. In einer Zeit, in der Diskussionen über tödliche autonome Waffen, Drohnenschwärme und die Militarisierung des Weltraums die moderne Kriegsführung wie einen Science-Fiction-Thriller erscheinen lassen, können Atomwaffen so rückständig wirken wie ein Walkman oder ein Festnetztelefon. Und doch investieren atombewaffnete Nationen wie Russland und China erneut stark in die Entwicklung hochwertiger und vielfältiger Atomwaffenarsenale, während Nordkorea die Expansion des eignen Arsenals weiter zügig fortsetzt und nukleare Entwicklungen im Iran erneut für Schlagzeilen sorgen.
Atomwaffen bilden seit der Gründung der NATO die Grundlage für die kollektive Verteidigung der Allianz. Seit über 70 Jahren dienen sowohl die unabhängigen nuklearen Kräfte der NATO-Atomwaffenstaaten – der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs – als auch die in Europa stationierten US-Atomwaffen zur Abschreckung für das Bündnis und Rückversicherung der Alliierten. Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben wiederholt bekräftigt, dass die NATO ein nukleares Bündnis bleiben wird solange Kernwaffen existieren.
Klar ist: wir brauchen immer noch Atomwaffen, weil nukleare Abschreckung immer noch notwendig ist und ihre Prinzipien immer noch funktionieren.
Reduzierungen nach dem Kalten Krieg
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges stationierten die Vereinigten Staaten rund 7.300 Atomwaffen in Europa, um den NATO-Verbündeten erweiterte Abschreckungs- und Sicherheitsgarantien zu geben. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurde die Anzahl der US-Atomwaffen, die in Europa zur Unterstützung der NATO stationiert sind, um 90 Prozent reduziert. Allein zwischen 1991 und 1993 zogen die Vereinigten Staaten rund 3.000 Atomwaffen aus Europa ab. Zwischen 2000 und 2010 reduzierten die USA die in Europa stationierten Atomwaffen weiter und konsolidierten diese an wenigen Stützpunkten. Dieses begrenzte Dispositiv besteht bis heute.
Die Verabschiedung des Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF) im Jahr 1987, gefolgt vom Vertrag zur Reduzierung strategischer Waffen (START)) im Juli 1991 und dem Vertrag zur Reduzierung Strategischer Offensivwaffen (SORT) ) im Jahr 2002, sorgte für eine konsequente Reduzierung der strategischen Atomwaffenarsenale der USA und Russlands, die durch die Umsetzung dieser Verträge immer geringer wurden.
BDie wohl bedeutendste Reduzierung atomarer Waffen in Europa fand jedoch im September 1991 statt und unterlag keinem Rüstungskontrollvertrag: Am 27. September 1991 nahm US-Präsident George H. W. Bush tiefgreifende Änderungen am US-Nukleardispositiv als Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion vor, und forderte die Staats- und Regierungschefs im Kreml auf, entsprechend gleichzuziehen. Nur wenige Tage später kündigte Präsident Michail Gorbatschow an, dass die Sowjetunion ähnliche Schritte unternehmen werde, um einen Großteil ihrer nicht-strategischen Nuklearwaffen zu reduzieren, abzubauen und zu zerstören.
Diese 'Presidential Nuclear Initiatives' führten zu der bedeutendsten Reduzierung taktischer – oder nicht-strategischer – Atomwaffen in Europa. Die USA zerstörten ca. 2.000 nukleare Artilleriegeschosse und ballistische Kurzstreckenraketen, entfernten alle taktischen Atomwaffen von Kriegsschiffen, U-Booten und Marineflugzeugen, zerstörten alle nukleare Seeminen, senkten den Bereitschaftsgrad strategischer Bomber und strichen geplante Modernisierungen einiger nuklearer Waffensysteme.
Sowjetische und später russische Staatschefs versprachen, die gesamte nukleare Artillerie, nukleare Sprengköpfe für taktische Raketen und nukleare Landminen zu beseitigen, sowie taktische Kernwaffen von Schiffen, Mehrzweck-U-Booten und Marineflugzeugen zu entfernen. Diese Waffen sollten zusammen mit Atomsprengköpfen von Luftverteidigungsraketen zentral gelagert und teilweise zerstört werden. Außerdem sollten ein Drittel Russlands seegestützter taktischer Atomwaffen, die Hälfte der Sprengköpfe für russische Boden-Luft-Atomraketen, sowie die Hälfte des russischen Lagerbestands an luftgestützten taktischen Atomwaffen beseitigt werden. Bis 2010 hatte Russland seine taktischen Atomwaffen in zentralen Lagerstätten in Russland konsolidiert, taktische Atomwaffen aus seinen Bodentruppen entfernt und das taktische Atomarsenal der Luftwaffe, der Raketenabwehrtruppen und der Marine drastisch gekürzt, wodurch die Anzahl nicht-strategischer Atomwaffen um rund 75 Prozent verringert wurde.
Die gemeinsame Reduzierung nicht-strategischer Atomwaffen der USA und Russlands war die tiefst greifende Veränderung des Nukleardispositivs in Europa. Dies führte zu einer erheblichen Reduzierung stationierter Atomwaffen und zur Verringerung militärischer Spannungen in Europa.
Leider führten die in der Mitte der neunziger Jahre erzielten Reduzierungen nicht zu nachhaltigen und überprüfbaren Fortschritten beim Abbau von Lagerbeständen nicht-strategischer Atomwaffen. Während die Vereinigten Staaten ihre nicht-strategischen Nuklearstreitkräfte im Laufe der Zeit einseitig reduzierten, bleibt es umstritten, ob auch Russland seine Verpflichtungen vollständig umsetzte, da diese politischen Erklärungen und Maßnahmen keine Überprüfungs- oder Einhaltungsverfahren enthielten.
Russland, eine erneute Herausforderung
In den letzten Jahren hat Russland erneut beschlossen, sich auf in Europa stationierte Atomwaffen zu verlassen, um einer vermeintlichen konventionellen Überlegenheit der NATO entgegenzuwirken. Im Rahmen seiner gesamten militärischen Erneuerung hat Russland seit Anfang der 2000er etwa 80 Prozent seiner strategischen Nuklearstreitkräfte modernisiert. Die Vereinigten Staaten beginnen erst jetzt ihr eigenes mehr als 20-jähriges Modernisierungsprogramm. Dies wird auch die Verlängerung der Lebensdauer der B61-Freifallbomben miteinbeziehen, die für die nukleare Teilhabe in Europa stationiert sind.
Aus diesem Grund wäre Russland besser vorbereitet um rasch neue nukleare Sprengköpfe für modernisierte Interkontinentalraketen (ICBM), U-Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBM) und Bomber bereitzustellen, wenn die vertraglich festgelegten Beschränkungen des New START Vertrages im Jahr 2021 oder 2026 auslaufen würden. Dies ist besonders von Bedeutung, da bisher bei Verhandlungen über ein neues Rüstungskontrollabkommens für strategische Waffensysteme, das New START ablösen könnte, kaum Fortschritte erzielt wurden.
Darüber hinaus entwickelt Russland neue Arten von Raketensystemen wie den Hyperschall-Gleitflugkörper Avangard mit strategischer Reichweite und den Hyperschall-Marschflugkörper Tsirkon, die Russland auf einer Vielzahl von Trägersystemen testet und stationiert. Russland entwickelt außerdem die luftgestützte ballistische Rakete Kinzhal, von der Moskau behauptet, dass sie eine Reichweite von etwa 2.000 km haben wird. Hyperschallwaffen fliegen mit extrem hohen Geschwindigkeiten, in relativ geringer Höhe und sind während des Fluges manövrierbar – eine Kombination, die es schwierig macht, Hyperschallraketen zu verfolgen, und es fast unmöglich macht, sich gegen sie zu verteidigen. Während die Vereinigten Staaten begonnen haben, mehr in die eigene Entwicklung von Hyperschall-Raketensysteme zu investieren, haben Russland (und China) einen Vorsprung.
Abgesehen von Hyperschallwaffen ist Russland auch dabei, neuartige nukleare Waffensysteme wie einen nuklear angetriebenen Marschflugkörper mit Nuklearsprengkopf und einen unbemannten atomar angetriebenen und bewaffneten Unterwassertorpedo zu entwickeln. Diese könnten dazu verwendet werden, NATO-Verbündete einzuschüchtern, zu nötigen oder anzugreifen – mit geringer Vorwarnung und Abwehrfähigkeit. Russlands Begründung für die Entwicklung solcher Waffen ist unklar. Es ist allerdings notwendig, dass die NATO ihre eigenen Fähigkeiten im Lichte der neuen russischen Systeme überprüft.
Die vielleicht größte Diskrepanz zwischen der NATO und Russland besteht jedoch im Bereich taktischer oder nicht-strategischer Atomwaffen. Dazu gehören Waffensysteme, die mit Atomsprengköpfen mit geringerer Sprengkraft ausgerüstet sind. Darunter fallen beispielsweise luft-, see- und bodengestützte Marschflugkörper. Russland verfügt heute über ein bedeutendes Arsenal an Raketensystemen, das für konventionelle sowie nukleare Sprengköpfe ausgelegt ist. Diese Raketen können das gesamte Territorium der europäischen NATO-Verbündeten von Land, von der See aus oder von der Luft aus erreichen. Mit einem vergleichsweisen großem Arsenal an nicht-strategischen Atomsprengköpfen – öffentlich geschätzt werden 1500 bis 2000 Sprengköpfe verglichen mit den geschätzten 150 bis 200 US-Freifallbomben, die in Europa gelagert werden – stellt Russland eine erneute Herausforderung an die regionale Abschreckungs- und Verteidigungsaktivitäten der NATO dar.
Effektive nukleare Abschreckung aufrechterhalten
GAngesichts dieses sich ändernden Sicherheitsumfelds – und bis unsere Herausforderer und potenziellen Gegner bereit sind, selbst auf Atomwaffen zu verzichten – muss die NATO in der Lage sein, atomare Bedrohungen abzuschrecken. Dazu gehört die Fähigkeit, auf einen Einsatz von Atomwaffen seitens Russland angemessen reagieren zu können. Nur so kann die die Sicherheit von fast einer Milliarde Menschen gewährleistet werden, die unter dem Schutzschirm der NATO leben.
Wie die Staats- und Regierungschefs der NATO vereinbart haben – und oft wiederholen –, ist der Hauptzweck der nuklearen Fähigkeiten der NATO „die Wahrung des Friedens, der Schutz vor Zwangsmaßnahmen und die Abschreckung von Aggressionen.“ Dies beinhaltet die Rückversicherung der Alliierten durch eine starke transatlantische Bindung im Rahmen kollektiver Sicherheit. Diese manifestiert sich auch durch die nukleare Teilhabe, bei der europäische und nordamerikanische Verbündete die Risiken und Verpflichtungen der nuklearen Abschreckung teilen. Indem die NATO zeigt, dass sie in der Lage und entschlossen ist, einem Angreifer nicht annehmbare Kosten aufzuerlegen, die weit schwerer wiegen würden als die Vorteile, die sich ein Angreifer erhofft, sendet dies auch ein starkes Signal an Russland. Es zeigt, dass Russland seine Ziele in einem Konflikt selbst mit einem begrenzten Einsatz von Atomwaffen nicht erreichen würde und, dass daher ein nuklearer Angriff seitens Russland keinen Erfolg haben würde.
Die NATO-Verbündeten bleiben fest entschlossen, eine Welt ohne Kernwaffen zu erreichen und Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung zu fördern. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO aber ein nukleares Bündnis bleiben. Die NATO wird weiterhin die Wirksamkeit unseres Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs sicherstellen, einschließlich der Gewährleistung, dass unsere Fähigkeiten für die nukleare Abschreckung sicher, geschützt und wirksam bleiben. Atomwaffen spielen weiterhin eine wichtige Rolle für die Sicherheit der NATO, um den Frieden zu wahren, vor nuklearer Erpressung zu schützen und Aggressionen abzuschrecken.