Berlin, Germany

29 Jan. 2007

Eng. / Deu.

Die NATO und die EU: Zeit für ein neues Kapitel

Keynote speech by NATO Secretary General, Jaap de Hoop Scheffer

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Es ist mir eine ganz besondere Freude, heute hier zu Ihnen zu sprechen.  Die Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehört zu den wichtigsten Themen der internationalen Sicherheitsdebatte.  Deshalb begrüsse ich die Initiative von Aussenminister Steinmeier, gleich am Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft dieses Thema in Form einer Konferenz aufzugreifen.  

Ein wichtiger Aspekt der Diskussion um eine ESVP ist natürlich das Verhältnis zwischen der NATO und der Europäischen Union.  Denn die Beziehungen dieser beiden Akteure sind ein Grundpfeiler unserer Sicherheit im 21. Jahrhundert.

Wie ist es um die NATO-EU Beziehungen bestellt?  Lassen Sie mich die Antwort mit Hilfe einer kleinen Anekdote geben.  Vor einigen Wochen sagte mir einer meiner Mitarbeiter, man habe ihn zu einer Konferenz über „frozen conflicts“ eingeladen.  Und dann fügte er lächelnd hinzu: „Es geht natürlich um den Kaukasus, nicht um die NATO-EU Beziehungen!“

Es ginge sicher zu weit, die NATO-EU Beziehungen als einen „frozen conflict“ zu qualifizieren.  Immerhin ist die Logik einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik heute unbestritten.  Die ESVP ist mittlerweile untrennbarer Bestandteil der europäischen Integration.  Und sie ist – wie schon der Verfassungsvertrag der Union vorsieht – vereinbar mit der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Allianz. Auch die USA haben nach anfänglichem Zögern erkannt, dass dieser Prozess richtig und wichtig ist – und dass man eine ESVP nicht als Gefahr, sondern als Chance begreifen muss.  Und kein Mensch würde heute noch allen Ernstes behaupten, die NATO und die EU seien Konkurrenten, deren Ziel es sei, den jeweils anderen aus dem Geschäft zu drängen. Solche Diskussionen sind Schnee von gestern – wenn es denn bis gestern überhaupt welchen gab.

Aber wenn man sich anschaut, wie vielfältig und komplex die Herausforderungen für unsere Sicherheit heute geworden sind, dann ist es schon erstaunlich, wie schmal die Bandbreite der Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Union geblieben ist.  Trotz vieler Versuche, die beide Institutionen näher aneinander heranzuführen – es bleibt eine merkwürdige Distanz zwischen ihnen. 

Warum sind die NATO-EU Beziehungen noch immer so problematisch?  Warum tun sich beide Institutionen so schwer damit, die „strategische Partnerschaft“, von der immer wieder die Rede ist, in die Tat umzusetzen?

Meine Antwort auf diese Fragen ist klar und eindeutig.  Die NATO-EU Beziehungen sind noch nicht wirklich im 21. Jahrhundert angekommen.  Sie stecken noch immer in den 90er Jahren fest.

Erinnern wir uns:  Die 90er Jahre markierten den Beginn der ESVP.  Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man die europäische Sicherheit ausschliesslich im Rahmen der NATO organisiert.  Die Westeuropäische Union hatte nur geringe praktische Bedeutung.  Nun aber trat die EU mit eigenen militärischen Ambitionen auf den Plan.  Und das bedeutete, dass es künftig neben der NATO noch eine weitere sicherheitspolitische Organisation in Europa geben würde.  Wir mussten folglich zunächst einmal Mittel und Wege finden, um sicherzustellen, dass die NATO und die EU einander nicht duplizierten.  Oder, um es einmal ganz undiplomatisch zu sagen, wir mussten verhindern, dass sich die EU und die NATO in die Quere kommen.  Das ist nicht gerade die Definition einer Liebesheirat!

„Berlin Plus“ war die richtige Antwort auf diese Herausforderung.  Diese Vereinbarung gibt der EU den gesicherten Zugang zu NATO-Fähigkeiten – zu Planung ebenso wie zu militärischer „hardware“.  Damit hat man frühzeitig die Weichen richtig gestellt – intelligente Arbeitsteilung statt überflüssiger Duplizierung.  Deshalb war und bleibt „Berlin Plus“ ein Meilenstein in der Entwicklung unserer transatlantischen Gemeinschaft.

Aber heute?  Heute reicht die defensive, auf die Vermeidung von Duplizierung ausgerichtete Perspektive nicht mehr aus.  Die Sicherheitslandschaft des 21. Jahrhunderts verlangt nach einer neuen Qualität der NATO-EU Beziehungen.  Angesichts der Herausforderungen auf dem Balkan, in Afghanistan und anderswo kann es nicht mehr genügen, die NATO-EU Beziehungen in erster Linie als ein Problem der geschickten Abgrenzung voneinander zu definieren.

Heute geht es um etwas ganz anderes.  Es geht darum, beide Institutionen so miteinander zu verbinden, dass die unterschiedlichen Instrumente beider Institutionen gemeinsam und möglichst wirkungsvoll zur Anwendung kommen können.  Warum?  Weil immer deutlicher wird, dass die militärischen und nichtmilitärischen Dimensionen von Sicherheit Hand in Hand gehen müssen.  Weil immer deutlicher wird, dass es ohne Entwicklung keine Sicherheit gibt, und keine Entwicklung ohne  Sicherheit.  Und weil immer deutlicher wird, dass die NATO und die EU spezifische Fähigkeiten besitzen, die letztlich nur gemeinsam den positiven Wandel in Krisenregionen befördern können.

Auf dem Balkan haben wir das schon seit langem beobachten können.  Vor fünf Jahren hat das gemeinsame Engagegement von NATO und EU einen Bürgerkrieg in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien 1 verhindert.  Die EU hat polizeiliche Aufgaben übernommen, die NATO die militärischen.  In Bosnien wiederum garantiert die EU inzwischen die “harte” Sicherheit, während sich die NATO auf die Ausbildung der bosnischen Streitkräfte konzentriert.  Dem Dogmatismus hat man hier keine Chance gelassen.  Stattdessen regiert der Pragmatismus.

Afghanistan ist ein noch deutlicheres Beispiel für diese wechselseitige Abhängigkeit.  Unser Erfolg dort hängt nicht von einem militärischen „Sieg“ im traditionellen Sinne ab.  Er hängt davon ab, ob es gelingt, ein sicheres Umfeld für die politische und wirtschaftliche Entwicklung herzustellen.  Die NATO kann dieses Umfeld herstellen, aber mehr nicht.  Die NATO hat nicht die zivilen Mittel, um den Wiederaufbau voranzutreiben, und wir haben auch gar kein Interesse daran, uns solche Mittel zuzulegen.  Es ist die EU, die über diese Mittel verfügt.  Deshalb kann sie, gemeinsam mit anderen zivilen Akteuren, entscheidende Impulse für den Wiederaufbau geben.  Mit anderen Worten, beide Institutionen sind aufeinander angewiesen.

Warum aber gibt es dann diese neue Qualität der Beziehungen noch nicht?  Warum hat sich die wechselseitige Abhängigkeit bislang nicht in engerer Kooperation niedergeschlagen?

Zwei Gründe sind meiner Auffassung nach für diesen Zustand verantwortlich. Der erste Grund sind die bekannten Differenzen, die sich aus den unterschiedlichen Mitgliedschaften von NATO und EU ergeben.  Dies führt zu formalen Rangeleien über Sicherheitsabkommen, den Austausch von Informationen, oder über Formate von Sitzungen.  Manche dieser Hürden haben wir durch informelle Verfahren umgehen können.  Aber wenn Die jenigen, die diese Hürden errichtet haben, nicht mehr Verantwortung und Flexibilität zeigen, dann wird dies eine schwere Hypothek für die NATO-EU Beziehungen bleiben.

Es gibt jedoch noch einen zweiten Grund für die gegenwärtige Schwäche der NATO-EU Beziehungen – und dieser Grund scheint mir noch gewichtiger zu sein als der Streit über Formalien.  Einige wollen die NATO und die EU absichtsvoll auf Distanz zueinander halten.  Denn für diese Denkschule bedeutet ein engeres Verhältnis der NATO zur EU eine zu grosse Einflussnahme der USA.  Vielleicht hat man auch Angst davor, dass die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik noch zu neu und zu verwundbar für eine Partnerschaft mit der NATO ist.  Und immer wieder höre ich auch das Argument, die EU sei nun einmal eine „höherwertigere“ Institution als die rein intergouvernmentale NATO, weshalb schon der Gedanke einer echten strategischen Partnerschaft zwischen beiden abwegig sei.

Für mich ist keines dieser Argumente stichhaltig.  Natürlich sind die NATO und die EU keine Zwillinge.  Die NATO ist kein allumfassendes Integrationsprojekt. Ihre Mitgliedstaaten geben keine Souveränität preis.  Die NATO integriert nicht, sie koordiniert.  Und sie koordiniert recht gut – vor allem in einem Rahmen, der die USA einschliesst, ohne die Sicherheit in unserer Welt nicht denkbar ist.  Diese Tatsache macht die NATO zu einem einzigartigen Forum.  Die europäischen Urängste über eine unbotmässige Einflussnahme der USA in Belange der EU teile ich ohnehin nicht.  Europa ist selbstbewusst genug – und das weiss man auch in Washington.

Wie aber kommen wir aus diesem unbefriedigenden Status quo heraus?  Wie bringen wir die NATO-EU Beziehungen von der Abgrenzungslogik der 90er Jahre in das Modell der Zusammenarbeit für das 21. Jahrhundert?

Eines ist klar: Der blosse Appell an die Einsichtsfähigkeit aller Beteiligten wird die Probleme nicht lösen.  Jeder, der eine zeitlang im NATO-EU Geschäft war, weiss das.  Und ebenso wenig wird es uns weiterbringen, wenn wir grandiose, ehrgeizige Visionen zu den NATO-EU Beziehungen entwerfen.  Damit verschrecken wir höchstens die Skeptiker, von denen es ja leider immer noch allzuviele gibt.  Wenn wir echte, spürbare Fortschritte wollen, dann müssen wir den Schwerpunkt auf kleine Schritte legen – auf Schritte, die eng an der operativen Realität orientiert sind.  Und da gibt es eine ganze Menge.  Lassen Sie mich am Ende meiner Bemerkungen einige Beispiele nennen, an denen wir eine echte strategische Partnerschaft zwischen der NATO und der EU implementieren können.

Erstens, Kosovo.  In Bosnien haben wir vor zwei Jahren einen reibungslosen  Übergang von der NATO auf die EU vollzogen.  Im Kosovo wird die NATO noch für längere Zeit militärisch engagiert bleiben.  Aber nach der Entscheidung über die Statusfrage wird es dort zu einer grösseren Rolle der EU kommen.  Deshalb sollten NATO und EU bereits heute darüber reden, wie die Parameter ihrer Zusammenarbeit in den kommenden Monaten aussehen sollen. Die polizeilichen Aufgaben der EU müssen mit den militärischen Aufgaben der NATO abgestimmt werden.

Zweitens, Afghanistan.  Ich habe dazu ja schon das Wesentliche gesagt.  Nur um meinen wichtigsten Punkt zu wiederholen: wir brauchen einen konzertierten Ansatz der Internationalen Gemeinschaft.  Und im Zentrum eines solchen Ansatzes müssen die NATO und die EU stehen – und zwar mit einer eng aufeinander abgestimmten Strategie.  Ein Anfang ist bereits gemacht: auf unserem Treffen mit den ISAF Truppenstellern Ende letzter Woche war auch die EU durch Rat und Kommission prominent vertreten.  Ich hoffe, dass wir diesen Weg fortführen können – und dass wir villeicht schon bald ein stärkeres Engagement der EU bei der Polizei- und Richterausbildung in Afghanistan sehen werden.

Drittens, militärische Fähigkeiten.  Die Diskussionen, die wir im Rahmen von „Berlin Plus“ zu diesem Thema führen, haben durch die Einrichtung der Europäischen Verteidigungsagentur eine neue Dimension erhalten.  Aber nach wie vor belassen wir es beim blossen Austausch von Information.  Die Gefahr der Duplizierung und der mangelnden Interoperabilität bleibt bestehen.  Auch hier stecken wir im Modell der 90er Jahre fest:  anstatt über Kooperation reden wir über „Deconfliction“.  Wir brauchen einen viel weitergehenden Dialog über die Harmonisierung unserer militärischen Transformation, nicht zuletzt mit Blick auf die Ausbildung und Zertifizierung der NATO Response Force und der EU Battle Groups.

Zu guter Letzt:  umfassender Dialog.  Seit meinem Amtsantritt vor drei Jahren habe ich für eine „Streitkultur“ in der NATO plädiert – für eine Strategiediskussion in breitesten Sinne, ohne Scheu vor der Kontroverse.  Eine solche Streitkultur muss es auch zwischen der NATO und der EU geben.  Wir brauchen den Gedankenaustausch über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen – Iran und Nordkorea liefern uns genug Gesprächsstoff.  Über Energiesicherheit müssen wir ebenso sprechen, wie über die Abwehr von Terrorismus  – weil beide Institutionen auf diesen Feldern unterschiedliche, aber komplementäre Aufgaben übernehmen könnten.

Und wir brauchen auch einen Dialog über die Erweiterungsprozesse beider Institutionen.  Diese Prozesse waren nie völlig parallel, aber sie haben sich in ihren positiven Wirkungen wechselseitig verstärkt.  Das muss auch in Zukunft so bleiben.  Und ebenso bin ich davon überzeugt, dass sich die Nachbarschaftspolitik der EU und die Partnerschaftspolitik der NATO hervorragend ergänzen könnten, wenn wir einen regelmässigen Austausch zu diesen Fragen hätten.  Noch einmal: es geht nicht um den institutionellen Gleichschritt, sondern um sinnvolle Abstimmung zwischen zwei wichtigen Akteuren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und der EU war nie wichtiger als heute.  Die Herausforderungen unserer Zeit verlangen nach einem umfassenden Sicherheitsansatz, in dem militärische und zivile Mittel gemeinsam und koordiniert zur Anwendung kommen.  Es gibt keinen stärkeren zivilen Akteur als die Europäische Union.  Und es gibt kein stärkeres Militärbündnis als die NATO.  Deshalb gibt es für mich nur eine Folgerung – mit der strategischen Partnerschaft endlich ernst zu machen!  Ich weiss, dass dies das Ziel der deutsche Ratspräsidentschaft ist.  Und ich werde alles tun, um sie dabei zu unterstützen.  Vielen Dank.

  1. Turkey recognises the Republic of Macedonia with its constitutional name.