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Updated: 30-Oct-2006 NATO Speeches

Berlin ,
Germany

25 October
2006

„Die Neubegründung der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft“

Secretary General’s Speech at the 50th Anniversary Meeting of the German Atlantic Treaty Association

News
24/10/2006 - NATO
NATO Secretary General to visit Berlin

Frau Bundeskanzlerin,

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Wir feiern heute das 50-jährige Jubiläum der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, zu dem ich Ihnen von ganzem Herzen gratuliere.  Es gibt nicht viele Organisationen, die auf ein halbes Jahrhundert erfolgreicher Arbeit zurückblicken können.  Mit Ausnahme natürlich der NATO ... aber die geht ja schon fast auf die Sechzig zu! Die Deutsche Atlantische Gesellschaft blickt heute zurück, und sie tut es zu Recht  mit einigem Stolz. Und sie blickt nach vorn,  zu neuen Aufgaben im weiten Feld der transatlantischen Beziehungen.

Als die Deutsche Atlantische Gesellschaft gegründet wurde, waren diese Stadt, Deutschland und Europa geteilt.  Berlin war einer der Brennpunkte des Kalten Krieges.  Ein Jahr zuvor war Westdeutschland der NATO beigetreten – ein kontroverser Schritt, dem damals viele Bürger kritisch gegenüberstanden.

Für die Deutsche Atlantische Gesellschaft waren dies bestimmt keine guten Startbedingungen.  Aber die DAG hat ihren Auftrag mit Bravour erfüllt.  Sie hat massgeblich zum Entstehen einer atlantischen Kultur in der Bundesrepublik beigetragen.  Und sie trat auch dann unerschütterlich für die deutsch-amerikanische Freundschaft und die NATO ein, als es politisch im Trend lag, dagegen zu sein.

Und heute? 

Berlin, Deutschland und Europa sind nicht mehr geteilt.  Zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa sind inzwischen der NATO beigetreten.  Demokratie und Atlantizismus sind zum bestimmenden Merkmal eines zusammenwachsenden Europas geworden. 

1956, als die Deutsche Atlantische Gesellschaft gegründet wurde, hätte man sich das alles nicht träumen lassen.  Und doch haben wir es erreicht.  Wir haben das alles erreicht, weil wir eine Wahrheit nie aus den Augen verloren haben – die Wahrheit nämlich, dass Europa nur gemeinsam mit Nordamerika stark sein kann.  Die Wahrheit, dass unsere beiden Kontinente nicht nur eine gemeinsame Geschichte haben, sondern auch eine gemeinsame Zukunft.

Wie in jeder Familie, so ist es auch in unserer transatlantischen Familie hin und wieder zu Auseinandersetzungen gekommen.  Aber gerade hier hat sich immer wieder die wahre Stärke der transatlantischen Beziehungen gezeigt.  Sie können auch Meinungsverschiedenheiten aushalten.  Die transatlantischen Beziehungen sind deshalb so stark, weil wir immer wieder aufs Neue um den richtigen Weg ringen müssen.

Diese Fähigkeit, gemeinsam den richtigen Weg zu finden, war noch nie so wichtig wie heute.  Der Kalte Krieg war eine Zeit mancher Gefahren, aber – Hand aufs Herz – diese Gefahren waren weitgehend berechenbar.  Wir wussten, wer uns bedroht, und womit.  Und folglich wussten wir auch, welche politischen und militärischen Strategien wir verfolgen mussten, um diesem Druck zu widerstehen.

Aber heute?  Im Zeitalter der Globalisierung sind die Dinge längst nicht mehr so klar und eindeutig.  Terrorismus ist eine Bedrohung ohne Gesicht.  Ein Gegner, für den unsere atlantischen Werte der Freiheit und Toleranz Grund genug sind, um uns mit tödlichem Hass zu verfolgen – und der dafür sogar den eigenen Tod in Kauf nimmt.

Auch auf die anderen Bedrohungen, mit denen wir uns in diesem Zeitalter konfrontiert sehen, gibt es keine einfachen Antworten.  Wie muss eine Strategie aussehen, mit der wir die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindern können?  Und welche Instrumente brauchen wir, um “gescheiterten Staaten” wenigstens ein Mindestmaß an Stabilität zurückzugeben?

Angesichts dieser radikalen Veränderungen ist es nicht damit getan, unsere Sicherheitspolitik da und dort ein wenig anzupassen.  Es geht um mehr – um viel mehr. 

Es geht, meine Damen und Herren, um nichts Geringeres als um die Neubegründung unserer transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft im Zeitalter globaler Herausforderungen. 

Das ist eine große, eine schwierige Aufgabe.  Aber wenn es überhaupt jemandem gelingt, dann doch wohl nur Nordamerika und Europa gemeinsam.  Warum?  Weil wir für dieselben Werte einstehen – die Werte einer offenen Gesellschaft – Werte, die für uns nicht verhandelbar sind.  Werte, die wir schützen müssen – und schützen werden.

Wir können diese Aufgabe auch mit Optimismus anpacken: denn wir haben das richtige Werkzeug dafür – die NATO.  Die NATO vereint Europa und Amerika im politischen Dialog, und sie verfügt auch über die militärischen Instrumente, um unsere gemeinsamen politischen Entscheidungen umzusetzen.  Diese Kombination ist einzigartig.  Sie erklärt, weshalb dieses Bündnis so gefragt ist, und auch, warum so viele Staaten dem Bündnis beitreten wollen.

Heute stehen mehr als 50,000 Soldaten unter dem Kommando der NATO, darunter fast 6,000 aus Deutschland.  Mit Hilfe unserer Frauen und Männer in Uniform hat die NATO es geschafft, den Balkan zu befrieden und dieser geschundenen Region die Rückkehr nach Europa zu eröffnen.  Unsere Soldaten schaffen unter Einsatz von Leib und Leben die Grundlage für die demokratische Entwicklung in Afghanistan und bewahren so das Land vor dem Rückfall in den Terror.  Die NATO unterstützt die Afrikanischen Union dabei, die Krisen auf dem afrikanischen Kontinent in den Griff zu bekommen.  Und unsere Hilfe nach dem Erdbeben in Pakistan vor einem Jahr zeigt, dass wir auch bereit sind, humanitäre Verantwortung zu übenehmen, wenn Not am Mann ist.

In diesen Operationen offenbaren sich bereits die Umrisse einer neuen transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft.  Es ist eine Gemeinschaft, die nicht abwartet, bis es zu spät ist, sondern die aktiv handelt.  Eine Gemeinschaft, die verstanden hat, dass man nur durch Handeln – nur durch die Projektion von Stabilität – die Dinge zum Besseren wenden kann.  Eine Gemeinschaft, die verstanden hat, dass wir den Problemen dort begegnen müssen, wo sie entstehen, weil die Probleme anderenfalls zu uns kommen.

In vier Wochen wird die NATO in der lettischen Hauptstadt Riga ihr nächstes Gipfeltreffen abhalten.  Es wird der erste Gipfel in einem unserer jüngsten Mitgliedsländer sein – in einem Land, dessen NATO-Beitritt noch vor kaum zehn Jahren undenkbar erschien.  Dieser Gipfel wird die Anpassung der NATO einen weiteren grossen Schritt voranbringen.

Wir werden unsere Operation in Afghanistan mit Entschlossenheit fortführen, um dieses Land ein- für allemal aus dem Würgegriff von Fundamentalismus und Drogen zu befreien.  Unter der Führung der NATO hat die Internationale Stabilisierungstruppe ein Fenster der Gelegenheit geöffnet – eine Chance, gemeinsam mit anderen Internationalen Organisationen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Afghanistans den entscheidenden Impuls zu geben.  Wir wissen: ohne Entwicklung gibt es keine Sicherheit.  Deshalb brauchen wir – mehr noch als bisher – die enge Koordination mit den zivilen Akteuren.  Erst wenn die beteiligten internationalen Organisationen, Staaten und Hilfsorganisationen ihre Aktionspläne und Operationen tatsächlich miteinander abstimmen, wird unserer gemeinsamer Einsatz auch zum Erfolg führen. Diesen Zusammenhang von Entwicklung und Sicherheit nicht nur zu erkennen, sondern auch in praktische Politik umzusetzen,  ist ein weiterer Baustein unserer neuen transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft.

Wir werden auch die Rolle der NATO bei der Ausbildung von Streitkräften anderer Staaten vergrössern.  Im Irak, in Afghanistan und mit der Afrikanischen Union haben wir gute Erfahrungen gesammelt.  Das Potenzial der NATO als Ausbilder ist aber noch lange nicht ausgeschöpft.  Gerade im Nahen Osten - und vielleicht später auch in Afrika - sehe ich einen grossen Bedarf und grosses Interesse.  Hier werden wir künftig noch mehr tun müssen.

Natürlich werden wir in Riga auch neue Initiativen für die Modernisierung unserer Streitkräfte auf den Weg bringen.  Die Beitrittskandidaten Albanien, Kroatien, und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien1 erwarten ein Signal, wie es um ihre künftige Aufnahme in die NATO bestellt ist.  Und auch die anderen Staaten auf dem westlichen Balkan wollen enger mit der NATO zusammenarbeiten.

Die Partnerschaftspolitik der NATO wird in Riga ein zentrales Thema sein.  Wir werden darüber diskutieren, wie wir die bestehenden Instrumente weiter verbessern können – für Europa, den Kaukaus, für Zentralasien, für den nahen Osten und für die Golfregion.  Und wir werden mit neuen Partnern das Gespräch suchen, etwa mit Staaten wie Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea.  Im Zeitalter globaler Herausforderungen brauchen wir zwar keine globale NATO - ich sehe die NATO nicht als Weltpolizist - aber eine NATO mit globalen Partnern.  Und wir brauchen die Formen der Zusammenarbeit, die in unserem gemeinsamen Interesse liegen.  Dieses zu erkennen – und entsprechend zu handeln – auch das ist Teil einer neuen transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft für das 21. Jahrhundert.

Meine Damen und Herren,

Deutschland hat in der NATO traditionell eine wichtige Rolle gespielt, und ich bin fest davon überzeugt, dass dies auch so bleibt. Das heute morgen im Kabinett beschlossene Weissbuch bietet hierfür eine ausgezeichnete Grundlage. Es verbindet Realismus mit Vision. Um die Rolle des Gestalters auch weiterhin spielen zu können, braucht Deutschland aber nicht nur eine entschlossene politische Führung und eine moderne Bundeswehr.  Sie braucht auch das, was man eine “strategic community” nennt – eine sicherheitspolitisch interessierte, aktive Öffentlichkeit.

Die Deutsche Atlantische Gesellschaft spielt hier eine bedeutende Rolle.  Sie hat es immer wieder verstanden, einer interessierten Öffentlichkeit die Herausforderungen einer globalisierten Welt sachlich und kompetent zu vermitteln.  Sie hat den tiefgreifenden Wandel der NATO verständlich gemacht.  Und sie hat sich – dies möchte ich hier ausdrücklich hervorheben – um den sicherheitspolitischen Nachwuchs verdient gemacht, indem sie auch die jüngere Generation an die transatlantische Idee herangeführt hat.

Aus diesem Grund freue ich mich heute besonders über die Gründung der Youth Atlantic Treaty Association (YATA) Germany, die gestern aus der Taufe gehoben wurde.  Die YATA gibt jungen, motivierten Menschen die Gelegenheit, selbst aktiv an der Gestaltung der transatlantischen Sicherheitspolitik teilzunehmen. 

Der neuen YATA gratuliere ich zu ihrer Gründung.  Und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft entbiete ich noch einmal meinen aufrichtigen Glückwunsch für ein halbes Jahrhundert erfolgreicher Arbeit.

1 Die Türkei erkennt die Republik Mazedonien unter ihrem verfassungsmäßigen Namen an.

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