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Updated: 11-May-2005 NATO Speeches

Berlin, Germany

11. Mai 2005

Deutschland und die NATO: 1955-2020

Rede von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer bei der DGAP

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ich freue mich sehr, heute abend hier zu sein. Zunächst ein Punkt zur Tagesordnung: Peter Struck und ich haben uns entschlossen, die Rede des jeweils anderen vorzutragen. Wie wir aus der Münchener Sicherheitskonferenz wissen, erhöht das auf dramatische Weise die Aufmerksamkeit, die einer Rede zuteil wird. Und da wir beide heute abend wichtige Dinge zu sagen haben, möchten wir auf der sicheren Seite sein.

Jetzt aber zum ernsthaften Teil des Abends. Diese Tagung findet anläßlich des 50. Jahrestages des deutschen NATO-Beitritts statt. Und dennoch haben Sie als Titel der Konferenz „NATO 2020“ gewählt. Ich halte das für eine sehr gute Wahl. Denn sie zeigt, daß man der Versuchung widerstanden hat, nur zurückzuschauen. Gerade ein Jubiläum wie dieses sollte mehr sein als ein Blick in die Vergangenheit. Es sollte immer auch Anlaß sein, nach vorne zu blicken.

Sie alle werden aber hoffentlich verstehen, daß ich zunächst einige Worte zum historischen Teil dieser Veranstaltung sage: dem 50. Jahrestag der deutschen NATO-Mitgliedschaft. Denn selten in der Geschichte war das Schicksal einer Nation so sehr mit dem eines Bündnisses verknüpft, wie wie dies bei Deutschland und der Atlantischen Allianz der Fall war. Die NATO hat es nicht nur vermocht, deutsche, europäische und nordamerikanische Interessen miteinander zu vereinbaren; sie hat diese Interessen häufig identisch werden lassen.

Für Deutschland war diese Konvergenz der Interessen ein unglaublicher Gewinn. Die Mitgliedschaft in der NATO – einschließlich eines gewichtigen militärischen Beitrags – war eine Investition, die sich für Deutschland tausendfach bezahlt gemacht hat. Das haben nicht zuletzt die Überwindung des Kalten Krieges und die deutsche Wiedervereinigung im NATO-Rahmen gezeigt.

Wenn man die letzten 50 Jahre Revue passieren läßt, dann fällt einem eines ganz deutlich auf: Alle großen sicherheitspolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik wurden im NATO-Rahmen oder jedenfalls mit engem Bezug zur NATO gefällt. Schon der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO im Mai 1955 war ein Akt von enormer historischer Bedeutung. Denn er verschaffte dem freien Teil Deutschlands ein festes Fundament der Sicherheitdurch militärische Abschreckung, in einer Epoche, in der dies unverzichtbar war. Die Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis machte Deutschland auβerdem zum gleichberechtigten Partner in einer Werte- und Handlungsgemeinschaft, die bis heute nichts von ihrer Attraktivität verloren hat.

Im NATO-Rahmen konnte Westdeutschland einen entscheidenden militärischen Beitrag zur Verteidigung Westeuropas leisten. Die neu aufgestellte Bundeswehr war von Anfang an eine klassische „NATO-Armee“ – eng ins Bündnis integriert und überall geschätzt. Unter dem gemeinsamen Dach der NATO und der Europäischen Einigung gelang die deutsch-französische Aussöhnung. Und als sich dann das Ende des Ost-West Konflikts abzeichnete, war die NATO das politische Symbol für die feste Verankerung Deutschlands in der transatlantischen Wertegemeinschaft, das Bekenntnis gegen deutsche Schaukel- oder Gleichgewichtspolitik .

Daß es ein deutscher NATO-Generalsekretär war, der diese epochalen Umbrüche miterleben und mitgestalten konnte, war eine besonders glückliche Fügung. Mit Manfred Wörner hatten Deutschland und das Bündnis den richtigen Mann am richtigen Ort zur rechten Zeit.

Deutschland wiedervereinigt, die Teilung Europas überwunden – manche Beobachter haben damals den Schluß gezogen, damit sei die historische Aufgabe der NATO vollbracht und das Bündnis könne nun in Rente gehen. Aber schon bald hat sich damals gezeigt, daß dies ein Fehlschluß war. Die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa verlangten nach einer sicherheitspolitischen Heimat – einer atlantischen Heimat. Und so machte sich Deutschland zum Fürsprecher der NATO-Erweiterung. So, wie die NATO einen Rahmen für die deutsch-französische Aussöhnung geboten hatte, tat sie es nun für die Aussöhnung zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn.

Deutschland hat zugleich aber auch den Aufbau von NATO-Rußland Beziehungen maßgeblich vorangetrieben, getreu dem Grundsatz, daß dauerhafte Sicherheit in Europa nur mit, und nicht gegen Rußland möglich ist. Die NATO-Rußland Grundakte war ein Meilenstein auf dem Weg zur endgültigen Überwindung der europäischen Teilung. Daß sie zustande kam, war nicht zuletzt dem kontinuierlichen Engagement Deutschlands zu verdanken.

Die enge Verknüpfung Deutschlands mit der NATO ist auch nach dem Ende des Kalten Krieges erhalten geblieben. Und sie ist nirgendwo deutlicher zum Ausdruck gekommen als bei dem Engagement der NATO auf dem Balkan. Im Rahmen dieses Engagements konnte Deutschland dem Wunsch der gesamten internationalen Staatengemeinschaft nach Übernahme von mehr Verantwortung entsprechen. Im NATO-Rahmen wurde möglich, was bis dahin unmöglich schien – deutsche Soldaten auf dem Balkan, die der Region zu einer besseren Zukunft verhelfen.

Auch heute, in einem Zeitalter, das manche das „Zeitalter des Terrorismus“ nennen, bleiben Deutschland und die NATO aufeinander angewiesen. Als Deutschland und die Niederlande gemeinsam den Vorschlag machten, der NATO den Oberbefehl über die Internationale Schutztruppe in Afghanistan zu übertragen, haben sie maßgeblich zur Fortentwicklung des Bündnisses beigetragen. Die NATO ist heute kein „eurozentrisches“ Bündnis mehr. Sie ist heute ein Instrument, das wir überall dort einsetzen können, wo dies zur Verteidigung unserer gemeinsamen Werte und Interessen erforderlich ist. Das ist ein dramatischer Wandel im Selbstverständnis dieser Organisation – und ein neues Kapitel in der Entwicklung der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft.

Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie die NATO sich weiterentwickeln wird.

Erwarten Sie hier von mir bitte keine detaillierte Beschreibung, wie die NATO im Jahre 2020 aussehen wird. Noch vor fünf Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, daß deutsche Truppen im Rahmen einer NATO-Operation am Hindukusch im Einsatz sein würden. Nein, mit allzu konkreten Spekulationen fällt man üblicherweise auf die Nase.

Aber gerade weil man die Zukunft nicht exakt voraussehen kann, ist es besonders wichtig, die NATO so weiterzuentwickeln, daß sie flexibel genug bleibt, um auch auf völlig neue Herausforderungen reagieren zu können. Keine Frage - wir werden immer wieder improvisieren müssen. Aber wir können eine ganze Menge dazu tun, um auf das Unvorhergesehene besser vorbereitet zu sein.

Aus meiner Sicht sind es vor allem drei Bereiche, auf die wir uns in den kommenden Monaten und Jahren besonders konzentrieren müssen.

Erstens, die militärische Transformation der Allianz muß weitergehen. Transatlantische Sicherheitsvorsorge heute heißt Projektion von Stabilität – auch und gerade in Regionen, die außerhalb Europas liegen. Entweder wir begegnen den Problemen dort, wo sie entstehen, oder diese Probleme kommen früher oder später zu uns. Die Zeit, als man noch zwischen „nahen“ und „fernen“ Bedrohungen unterscheiden konnte, ist unwiederbringlich vorbei.

Kein Staat kann es sich deshalb heute noch erlauben, Streitkräfte zu unterhalten, die alleine der Territorialverteidigung dienen. Wir brauchen Streitkräfte, die schnell reagieren und über große Entfernungen hinweg zum Einsatz gebracht werden können. Wir brauchen Soldaten, die das gesamte Spektrum vom Kampfeinsatz bis zu Friedenserhaltung abdecken können. Und wir brauchen Streitkräftestrukturen, die so beschaffen sind, dass mehr Soldaten für Auslandsmissionen bereitgestellt werden können.

Die NATO hat die richtigen Weichen gestellt. Wir haben die NATO Response Force aufgestellt. Wir reformieren unsere Streitkräfteplanung, um sicherzustellen, daß unsere politischen Entscheidungen auch militärisch unterfüttert werden können. Und wir haben ein Strategisches Oberkommando aufgebaut, das sich auschließlich mit der Transformation der Streitkräfte befasst. Denn für uns ist „Transformation“ keine leere Worthülse, sondern eine Grundbedingung für das Funktionieren dieser Allianz auch in einem radikal veränderten Sicherheitsumfeld – heute ebenso wie im Jahre 2020.

Zweitens, wir müssen engere Beziehungen zwischen unseren Institutionen aufbauen. Schon seit einiger Zeit können wir einen Rückgang von Konflikten zwischen Staaten beobachten. Die Zahl der gewaltsamen innerstaatlichen Konflikte hingegen nimmt zu. Man braucht also keine Kristallkugel, um vorauszusehen, daß Sicherheitspolitik von morgen überwiegend langfristige Stabilisierungspolitik sein wird – mühsames und geduldiges Entschärfen von Gefahrenlagen, zum Teil in entfernten Gegenden dieser Welt.

Militärische Komptetenz alleine reicht hier nicht aus. Diese Aufgabe kann nur gelingen, wenn wir politische, militärische und wirtschaftliche Instrumente aufeinander abgestimmt einsetzen können. Deshalb werde ich in den kommenden Monaten den Aufbau von engeren Beziehungen zwischen der NATO und den Vereinten Nationen vorantreiben. Wir werden unseren Dialog mit den „NGOs“, also den Nicht-Regierungsorganisationen, ausbauen.

Und wir werden – noch lange vor dem Jahr 2020 – hoffentlich das erreichen, was ich für die größte und wichtigste institutionelle Veränderung der kommenden Jahre halte: eine echte strategische Partnerschaft zwischen der NATO und der Europäischen Union. Ich werde morgen in einer Rede an der Humboldt-Universität meine Gedanken zum NATO-EU-Verhältnis ausführlicher darlegen. Deshalb hier nur so viel: Diese Partnerschaft ist ein strategisches “Muss”. Das Potential, das im Zusammenwirken dieser beiden Organisationen steckt, ist viel zu groß, um es ungenutzt zu lassen.

Der dritte Bereich der NATO-Reform betrifft das, was ich schon seit meinem Amtsantritt mit dem Begriff “Streitkultur” umschrieben habe: die Notwendigkeit, die NATO politischer zu machen.

Hand aufs Herz: Kontroversen innerhalb der EU oder der UNO werden oft als normal angesehen. Ganz anders dagegen die NATO: hier gelten Debatten noch immer als Zeichen des nahen Untergangs. Diese Sichtweise ist ein Reflex aus dem Kalten Krieg. Damals mußte die NATO Einigkeit um jeden Preis demonstrieren.

Aber kann das Vermeiden von Debatten auch heute noch unser oberstes Ziel sein? Für mich jedenfalls hat sich diese Einstellung überholt. In einer Zeit der großen sicherheitspolitischen Umbrüche gibt es keine Patentlösungen. Wir müssen immer wieder um den richtigen Weg ringen.

Albert Einstein hat einmal gesagt, Wissenschaft ensteht im Gespräch. Nun ist nicht jede Debatte im NATO-Rat hochwissenschaftlich; und auch nicht jedes Gespräch in den Brüsseler Korridoren erreicht das Niveau eines Einstein. Aber Sprachlosigkeit oder künstliche Harmonie durch das Ausklammern von Problemen sind kein Rezept – heute nicht, und schon gar nicht in der Sicherheitslandschaft des Jahres 2020.

Vor allem aber: Wenn die Atlantische Allianz nicht über entstehende und akute Krisen und Gefährdungen spricht, ist sie politisch nicht darauf vorbereitet, mit einem gemeinsamen Ziel und einer gemeinsamen Strategie zu handeln, wenn es notwendig werden sollte. Dann muss die Konsensbildung under dem Druck unmittelbaren Handlungszwangs im Eiltempo nachgeholt werden. Und das birgt ein groβes Risiko, dass man sich eben nicht, oder nicht rechtzeitig, einigt.

Daher sollten wir unsere politischen Interessen klar formulieren und offensiv vertreten. Eine Allianz, die bloßes militärisches Dienstleistungsunternehmen ist, kann auf Dauer nicht funktionieren. Und das kann nicht im Sinne einer umfassenden transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft sein. Deshalb müssen wir die Fähigkeit zur Debatte als Chance begreifen – als Chance für eine politischere und damit zukunftsfähige NATO.

Meine Damen und Herren,

So wie die NATO von heute mit der des Jahres 1955 kaum noch etwas gemeinsam hat, so wird auch die Allianz des Jahres 2020 in vieler Hinsicht anders aussehen als das, was wir heute kennen. Die NATO 2020 wird sich vielleicht militärisch in Regionen engagieren müssen, denen wir heute kaum Beachtung schenken. Und sie wird dies mit neuen militärischen Fähigkeiten tun.

In jedem Falle aber wird die NATO 2020 enge Beziehungen zu anderen Institutionen unterhalten, einschließlich einer umfassenden strategischen Partnerschaft mit der Europäischen Union. Die NATO des Jahres 2020 wird auch den Sicherheitsdialog und die Zusammenarbeit mit vielen Staaten außerhalb Europas pflegen, von Australien bis Japan, von Neuseeland bis zu den Staaten des Persischen Golfs. Sie wird für ihre Mitglieder eine echtes Forum des Dialoges und der Entscheidung sein – ohne diplomatische Rituale, dafür mit umso mehr Substanz.

Viel Wandel, viel Veränderung. Aber auch eine Konstante: eine starke deutsche Rolle im Bündnis.

Meine Damen und Herren, ich habe in meinem Vortrag gesagt, daß ich auch bei der NATO des Jahres 2020 von einer starke Rolle Deutschlands ausgehe. Das setzt jedoch eines voraus: nämlich eine jüngere Generation, die Sicherheitspolitik nicht nur in den Medien verfolgt, sondern aktiv gestalten will. Daß es diese “young leaders” gibt, zeigt der Essay-Wettbewerb, den die Public Diplomacy Division der NATO zum Thema “Deutschland und die NATO” veranstaltet hat.

Es ist mir eine große Freude, dem Gewinner dieses Essay-Wettbewerbs, Herrn Dr. Christoph Schwegmann, den Preis von 5.000 Euro zu überreichen. In seinem Papier skizziert Dr. Schwegmann nicht nur die Rolle Deutschlands im Bündnis; er gibt auch Empfehlungen für die operative Politik. Deshalb freue ich mich auch besonders, daß der Aufsatz in der Zeitschrift “Internationale Politik” veröffentlicht worden ist. Damit wird ihm die Verbreitung zuteil, die er verdient.

Herr Dr. Schwegmann, herzlichen Glückwunsch!

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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