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Updated: 19-Nov-2004 NATO Speeches

Österreichischen Institut für Sicherheitspolitik, Wien

18 Nov. 2004

Transatlantische Sicherheit in der Bewährung

Speech by NATO Secretary General, Jaap de Hoop Scheffer

Herr Botschafter Dr. Hochleitner,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,


Ich freue mich sehr über diese Gelegenheit, hier vor Ihnen sprechen zu können. Als mich die Veranstalter vor einigen Wochen um einen Titel für meinen Vortrag baten, habe ich mich ohne Zögern für “Transatlantische Sicherheit in der Bewährung” entschieden.

Ich habe dieses Thema nicht nur deshalb gewählt, weil meine Reise nach Wien so kurz nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen stattfinden würde. Ich wusste damals auch noch nicht, dass Präsident Bush mich nach seiner Wiederwahl als ersten ausländischen Amtsträger ins Weiße Haus einladen würde. Ich habe das Thema gewählt, weil sich die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft gegenwärtig in einer Phase des Wandels befindet, deren Geschwindigkeit und deren Tragweite vielen Beobachtern noch nicht wirklich klar ist.

Nordamerika und Europa stehen gleichermaßen vor der Herausforderung, sich an ein radikal verändertes Sicherheitsumfeld anzupassen. Die Wesensmerkmale dieses neuen Sicherheitsumfelds – Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, und “gescheiterte Staaten” – haben nichts mehr mit den Bedrohungen der Vergangenheit gemeinsam. Aber unsere gemeinsame Sicherheit – die Europas wie Amerikas gleichermaßen – wird davon abhängen, wie erfolgreich wir diesen Anpassungsprozeß meistern. Deshalb ist dies für die transatlantische Sicherheitspartnerschaft in der Tat die Stunde der Bewährung.

Doch wie ist es um diese Partnerschaft bestellt? Ginge es nach den Kassandras, so ist die Antwort eindeutig. Für die professionellen Schwarzseher hat die Kontroverse um den Irak-Krieg gezeigt, daß sich Amerika und Europa unaufhaltsam auseinanderentwickeln – sowohl was Bewertung der neuen Bedrohungen angeht, als auch hinsichtlich der Mittel, die man einzusetzen bereit ist. Robert Kagan hat die römische Mythologie bemüht, um den vermeintlichen Gegensatz zwischen Amerika und Europa herauszustellen: Amerika sei vom Mars, Europa dagegen sei von der Venus.

Das ist eine griffige Formulierung. Aber auch das “Ende der Geschichte” war einst eine solche populäre Formulierung. Und heute redet kaum noch jemand darüber. Die Geschichte hat das “Ende der Geschichte” überholt. Und ich behaupte, daß es den Theorien von der transatlantischen Scheidung nicht besser ergehen wird.

Nun werden Sie vielleicht denken, daß ich als NATO-Generalsekretär ja ohnehin dazu verpflichtet bin, Optimismus zu verbreiten – Optimismus als Berufskrankheit, sozusagen. Aber ich glaube, was das transatlantische Verhältnis angeht, so zeigt sich immer deutlicher, daß wir nach einer schwierigen Phase wieder Tritt gefasst haben. Erst vergangene Woche hat Präsident Bush in einem persönlichen Gespräch diesen Punkt mir gegenüber bekräftigt. Die Devise heißt: transatlantische Zusammenarbeit. Und dafür steht die NATO wie kein anderes Forum.

Um jedem Mißverständnis vorzubeugen: Zusammenarbeit heißt nicht, in eingefahrenen Bahnen zu bleiben. In einer Welt, die sich wandelt, greifen viele der traditionellen Ansätze nicht mehr. Sicherheitspolitik ist nicht Traditionspflege. Es ist auch keine Hinhaltetaktik. Sicherheitspolitik heute heißt, den Wandel mitgestalten – in dem man selbst Teil des Wandels wird. Die Agenda der NATO ist eine solche Agenda des Wandels.

Da ist zuallererst unser Verständnis von Sicherheit. Sicherheitsvorsorge heute heißt Projektion von Stabilität – auch und gerade in Regionen, die außerhalb Europas liegen. Eine Sicherheitspolitik, die sich auf den europäischen Kontinent beschränkt, reicht im Zeitalter globaler Herausforderungen nicht mehr aus. Entweder, wir begegnen den Problemen dort, wo sie entstehen, oder diese Probleme kommen früher oder später zu uns. Die Zeit, als man noch zwischen „nahen“ und „fernen“ Bedrohungen unterscheiden konnte, ist heute unwiderbringlich vorbei.

Die NATO hat die Konsequenzen aus dieser neuen Realität gezogen. Mit unserem Einsatz in Afghanistan – und der Ausbildungsmission im Irak – haben wir klar gemacht, daß dieses Bündnis kein rein „eurozentrisches“ Bündnis mehr ist, sondern ein Instrument, das wir überall dort einsetzen können, wo unsere gemeinsamen Sicherheitsinteressen es erfordern.

Das macht die NATO noch lange nicht zum „Weltpolizisten“. Die „globale NATO“, die manche schon kommen sehen, sehe ich jedenfalls nicht. Aber ebensowenig sehe ich eine Zukunft in einem rein regionalen und reaktiven Sicherheitsansatz. Diese Auffassung ist übrigens keinewegs nur auf die NATO-Mitglieder beschränkt. Sie wird auch von unseren Partnerstaaten geteilt. Viele unserer Partnerstaaten – darunter auch Österreich – sind beispielsweise in Afghanistan engagiert.

Dies bringt mich direkt zur zweiten großen Fortentwicklung der NATO: zur strategischen Bedeutung eines Partnerschaftsansatzes – sowohl mit anderen Ländern als auch mit anderen Organisationen.

Es mag wie eine Platitüde aus der Werbung klingen, aber der Grundsatz “Gemeinsam sind wir stärker” ist nun einmal ein wesentlicher Faktor modernener Sicherheitspolitik. Keine der großen strategischen Herausforderungen unserer Zeit kann im Alleingang bewältigt werden. Die Probleme des internationalen Terrorismus, durch “gescheiterte Staaten” oder die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen lassen sich nur im Wege internationaler Zusammenarbeit lösen – Zusammenarbeit, die weit über die NATO-Mitglieder hinausreichen muß.

Die NATO hat deshalb schon lange auf Partnerschaft gesetzt. Die Partnerschaft für den Frieden hat dieses Jahr bereits ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert. Zehn Jahre, in denen die europäischen Sicherheit einen Quantensprung erlebt hat. Zehn Jahre, in denen NATO- und EU-Mitglieder, Neutrale und Nichtgebundene in einer großen Koalition für den Frieden zusammengearbeitet haben. Zehn Jahre, in denen wir die Sicherheitskooperation bis nach Zentralasien ausgedehnt haben.

Als diese Politik der Partnerschaft begann, gab es nicht nur Zustimmung, sondern auch mancherlei Mißtrauen. Manche sahen die Partnerschaft als Einstieg in den Ausstieg aus der Neutralität. Andere befürchteten damals, ein Partnerland würde durch die Annäherung an die NATO seine außen- und sicherheitspolitische Identität verlieren.

Heute sehen wir, daß derlei Bedenken unbegründet waren. Niemand hat etwas eingebüßt – ganz im Gegenteil, alle haben etwas gewonnen. Gemeinsam ist es der NATO und ihren Partnern gelungen, die Kriege auf dem Balkan zu beenden und den Menschen dort neue Hoffnung zu geben. Gemeinsam haben wir soeben die ersten demokratischen Wahlen in der Geschichte Afghanistans abgesichert – mit überwältigendem Erfolg. Und gemeinsames Handeln wird auch in Zukunft die Maxime bleiben. Deshalb wird die Partnerschaft kontinuierlich ausgebaut und vertieft. Wir werden unseren Partnerstaaten noch mehr Mitsprache bei gemeinsamen Operationen einräumen. Und wir machen neue Angebote zur Zusammenarbeit beispielsweise bei der NATO Response Force, die bei Kriseneinsätzen prinzipiell auch für die Beteiligung von Partnern offen ist.

Die Partnerschaft bietet also auch neue Optionen für die Reform der Streitkräfte. Ich appelliere an unsere Partner, diese Möglichkeiten auszuschöpfen. Denn Hand aufs Herz: kein Staat kann es sich heute noch erlauben, Streitkräfte zu unterhalten, die alleine der Territorialverteidigung dienen. Heute brauchen wir Streitkräfte, die schnell reagieren und über große Entfernungen hinweg zum Einsatz gebracht werden können. Wir brauchen Soldaten, die für die neuen Aufgaben ausgebildet und ausgerüstet sind. Und wir brauchen Streitkräftestrukturen, die so beschaffen sind, daß mehr Soldaten für Friedenseinsätze bereitgestellt werden können. Das sind Herausforderungen, vor denen wir alle gleichermaßen stehen, gleichgültig ob NATO-Mitglied oder Partner. Und deshalb sollten wir diese Fragen auch so weit wie möglich gemeinsam angehen.

Seit seinem Eintritt in die Partnerschaft vor neun Jahren hat sich Österreich als eines der aktivsten Partnerländer etabliert. Österreich hat sich an NATO-geführten Operationen in Bosnien und Kosovo sowie in Afghanistan beteiligt. Es hat sich aber auch um die konzeptionelle Weiterentwicklung der Partnerschaft verdient gemacht. Im Rahmen des österreichischen “International Peace Support Command” werden sowohl nationales als auch internationales Personal auf die Beteiligung an NATO-geführten Operationen zur Friedenserhaltung vorbereitet. Und wenn heute in Serbien und Montenegro 1,3 Millionen Antipersonenminen vernichtet werden, dann ist dies auch ein Verdienst Österreichs, das gemeinsam mit dem NATO-Mitglied Kanada ein sogenanntes “Trust Fund” Projekt im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden leitet.

Das Konzept der Partnerschaft muß jedoch noch umfassender verstanden werden. Es muß auch die Zusammenarbeit zwischen den großen Organisationen mit einschließen. Dies gilt zum einen für die Zusammenarbeit zwischen NATO und den Vereinten Nationen. Letzte Woche hatte ich Gelegenheit, als erster NATO-Generalsekretär vor dem UN-Sicherheitsrat zu sprechen. Das Thema war unsere Zusammenarbeit in Bosnien, aber in allen meinen Gesprächen, darunter auch mit Generalsekretär Kofi Annan, ging es um die ganze Bandbreite unserer Beziehungen – von Afghanistan bis zum Irak. Und alle waren sich einig: diese Beziehungen werden künftig noch stärker an Bedeutung gewinnen.

Das Konzept der Partnerschaft gilt aber vor allem auch im Verhältnis zwischen der NATO und der Europäischen Union. Das Potential, das in einer echten strategischen Partnerschaft zwischen diesen beiden Organisationen steckt, ist schlicht zu groß, um es ungenutzt zu lassen. Zusammen verfügen die NATO und die EU nämlich über ein breites Spektrum von Instrumenten – zivile und militärische. Und genau diese Kombination brauchen wir, um die neuen Herausforderungen erfolgreich anzupacken. Eine Partnerschaft zwischen NATO und EU, die Duplizierungen vermeidet und stattdessen auf Komplementarität setzt, ist daher in unser aller Interesse.

Ich werde deshalb alles dafür tun, die strategische Partnerschaft zwischen diesen beiden großen Institutionen auszubauen. Die bevorstehende Übernahme der Friedensmission in Bosnien durch die EU ist nur ein Element dieser neuen Partnerschaft. Wir brauchen mehr: eine koordinierte Politik im Umgang mit dem Terrorismus, einen koordinierten Ansatz zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Und wir brauchen eine koordinierte Politik im Umgang mit den geopolitischen Schlüsselregionen dieser Welt.

Eine solche Region ist der sogenannte „Broader Middle East“. Fast 400 österreichische Soldaten leisten heute Dienst auf den Golan-Höhen. Ich brauche Sie hier also nicht von der Bedeutung des “Broader Middle East” für unsere Sicherheit zu überzeugen. Sich dieser Region mit neuen Ideen und neuen Initiativen zu nähern – die Zukunft des „Broader Middle East“ als transatlantische Gestaltungsaufgabe zu verstehen – das ist eine weitere Aufgabe, der wir uns gemeinsam stellen müssen.

Wir werden deshalb unseren Dialog mit den südlichen Mittelmeeranrainern vertiefen. Wir stehen in Gesprächen mit Staaten der Golfregion über konkrete Zusammenarbeit.

Vor allem aber: wir bilden irakische Sicherheitskräfte aus – im Irak und außerhalb des Landes. Diese Entscheidung ist manchem nicht leichtgefallen. Aber wie auch immer man zum Irak-Krieg gestanden hat: ein stabiler, demokratischer Irak ist das gemeinsame Ziel von uns allen. Je früher die Iraker ihre Sicherheit selbst organisieren können, desto besser. Deshalb sind wir dem Wunsch der irakischen Übergangsregierung nachgekommen, diese Aufgabe zu übernehmen. Weil vernünftige Politik nach vorn blickt, nicht zurück.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Wenn heute die Vereinten Nationen bei der NATO um mögliche Unterstützung für die Afrikanische Union vorsondieren; oder wenn heute NATO- und UN-Experten gemeinsam über Streitkräfteplanung nachdenken, dann erst wird deutlich, welche Schlüsselrolle der NATO heute zukommt. Denn nirgendwo sonst können sich Multilateralismus und Effektivität so wirkungsvoll vereinen wie hier in dieser Allianz. Nirgendwo sonst gibt es eine integrierte multilaterale Struktur unter engster Mitwirkung der Vereinigten Staaten. Die NATO hat die USA mit am Tisch. Sie ist prädestiniert, das Forum zu bilden, in dem der transatlantische Sicherheitsdialog geführt wird – um transatlantische Konflikte zu vermeiden, und um gemeinsam zu handeln, wo gemeinsame Werte und Interessen bedroht sind.

Die NATO ist eine Allianz, die sich an den Realitäten des 21. Jahrhunderts orientiert – die sich nicht gegen den Wandel stemmt, sondern ihn aktiv befördert. Es ist, kurz gesagt, eine Allianz, die sich nicht damit zufriedengibt, den Frieden zu erhalten, sondern die ihn gestaltet – gemeinsam mit unseren Partnern. Ich freue mich, daß ich Österreich zu diesen aktiven Partnern zählen kann.

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