Updated: 08-Nov-2004 | NATO Speeches |
At the “Welt am 8 Nov. 2004 |
Die Zukunft der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft Speech by NATO Secretary General, Jaap de Hoop Scheffer Verehrte Frau Springer, Herr Döpfner,Meine Damen und Herren, Sie haben mich zur Einführung in diese Konferenz um meine Gedanken zur Zukunft der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft gebeten. Ich glaube, daß sich diese Partnerschaft gegenwärtig in einer Phase des Umbruchs befindet, die man nur mit dem Begriff “historisch” bezeichnen kann. Nordamerika und Europa stehen gleichermaßen vor der Herausforderung, sich an ein radikal verändertes Sicherheitsumfeld anzupassen. Die Wesensmerkmale dieses neuen Sicherheitsumfelds – Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, und “gescheiterte Staaten” – haben nichts mehr mit den Bedrohungen der Vergangenheit gemeinsam. Entsprechend hoch sind die Erwartungen, die an diesen Anpassungsprozeß gestellt werden müssen. Werden die transatlantischen Partner diesen hohen Erwartungen gerecht? Wird ihnen die Anpassung an das neue Sicherheitsumfeld im Einvernehmen gelingen? Die professionellen Kassandras kennen natürlich bereits die Antwort auf diese Fragen. Für sie läßt die Irak-Kontroverse des vergangenen Jahres nur einen Schluß zu: Amerika und Europa treiben unaufhaltsam auseinander. Amerika sei “Mars”, Europa hingegen sei “Venus” – so lautet eine der griffigen Formeln, die den Zustand der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft beschreiben sollen. Der Atlantizismus habe seine Ausstrahlungskraft verloren – und zwar ganz unabhängig davon, wer im Weissen Haus regiert.
Denn an ihre Stelle tritt etwas neues: ein Atlantizismus, der sich nicht nostalgisch-verklärend auf die Vergangenheit beruft. Ein Atlantizismus, der sich nicht am Gestern orientiert, sondern am Heute und Morgen. Dieser neue – “aufgeklärte” – Atlantizismus entsteht bereits. Und er entsteht genau dort, wo sich gemeinsame transatlantische Werte und der Wille, diese Werte zu verteidigen, in einer Weise verbinden wie nirgendwo sonst – in unserer Atlantischen Allianz. Denn die Agenda der NATO ist nichts anderes als die Agenda einer neuen, zukunftsgewandten transatlantischen Sicherheitspartnerschaft für das frühe 21. Jahrhundert. Es ist eine Agenda, die sich nüchtern und schonungslos an den Realitäten orientiert, die die transatlantische Zusammenarbeit in den kommenden Jahren entscheidend prägen werden. Von welchen Realitäten spreche ich? Lassen Sie mich die wichtigsten erläutern. Realität Nummer Eins: Ein neues Sicherheitsumfeld verlangt nach neuem Denken. Transatlantische Sicherheitsvorsorge heute heißt Projektion von Stabilität – auch und gerade in Regionen, die außerhalb Europas liegen. Eine Sicherheitspolitik, die sich auf den europäischen Kontinent beschränkt, reicht im Zeitalter globaler Bedrohungen nicht mehr aus. Entweder, wir begegnen den Problemen dort, wo sie entstehen, oder diese Probleme kommen früher oder später zu uns. Die Zeit, als man noch zwischen „nahen“ und „fernen“ Bedrohungen unterscheiden konnte, ist unwiderbringlich vorbei. Die NATO hat die Konsequenzen aus dieser neuen Realität gezogen.
Mit unserem Einsatz in Afghanistan – und der Ausbildungsmission im Irak
– haben wir klar gemacht, daß dieses Bündnis kein rein „eurozentrisches“
Bündnis mehr ist, sondern ein Instrument, das wir überall dort einsetzen
können, wo unsere gemeinsamen Das macht die NATO noch lange nicht zum „Weltpolizisten“. Die „globale NATO“, die manche schon kommen sehen, sehe ich jedenfalls nicht. Aber ebensowenig sehe ich eine Zukunft in einem rein regionalen und reaktiven Sicherheitsansatz. Eine Politik des „Warten auf Godot“ wird unseren Sicherheitsinteressen nicht mehr gerecht. Aber geben wir uns keinen Illusionen hin: diese neuen Aufgaben außerhalb Europas sind noch schwieriger und gefährlicher als das, was wir bereits auf dem Balkan gesehen haben. Es überrascht mich daher auch nicht, wenn sich unsere Öffentlichkeit noch schwer tut bei dem Gedanken, daß Einsätze wie der in Afghanistan künftig nicht die Ausnahme sein könnten, sondern vielleicht die Regel. Hier ist in erster Linie die Politik gefordert. Sie muß durch klare und sachliche Argumente überzeugen. Sie muß deutlich machen, daß die Stabilisierung Afghanistans oder des Irak eine Investition in die eigene, unmittelbare Sicherheit eines jeden Einzelnen ist. Gerade die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat doch immer wieder gezeigt, daß durch klare politische Führung auch anfänglich kontroverse sicherheitspolitische Entscheidungen am Ende von einer breiten Bevölkerungsmehrheit akzeptiert und mitgetragen wurden. Dies gilt auch heute. Gerade erst haben die erfolgreichen Wahlen in Afghanistan bewiesen, wozu die internationale Staatengemeinschaft in der Lage ist, wenn sie sich auf wirksame multilaterale Instrumente wie die NATO stützt. Deshalb müssen wir auf diesem Weg weitergehen. Realität Nummer Zwei: Eine neue Sicherheitspolitik verlangt nach neuen militärischen Fähigkeiten. Kein Staat kann es sich heute noch erlauben, Streitkräfte zu unterhalten, die alleine der Territorialverteidigung dienen. Wir brauchen heute Streitkräfte, die schnell reagieren und über große Entfernungen hinweg zum Einsatz gebracht werden können. Wir brauchen Soldaten, die für die neuen Aufgaben ausgebildet und ausgerüstet sind. Und wir brauchen Streitkräftestrukturen, die so beschaffen sind, daß mehr Soldaten für Auslandsmissionen bereitgestellt werden können. Die NATO hat auch hier die richtigen Konsequenzen gezogen. Wir haben die NATO Response Force aufgestellt. Wir sind dabei, die strategischen Transportfähigkeiten zu verbessern. Wir reformieren unsere Streitkräfteplanung, um sicherhzustellen, daß unsere politischen Entscheidungen auch militärisch unterfüttert werden können. Und wir haben ein Strategisches Oberkommando aufgebaut, das sich auschließlich mit der Transformation der Streitkräfte befaßt. Denn für uns ist „Transformation“ keine leere Worthülse, sondern eine Grundbedingung für das Funktionieren dieser Allianz auch in einem radikal veränderten Sicherheitsumfeld. Realität Nummer Drei: Ein aufgeklärter Atlantizismus in der Sicherheitspolitik bedeutet auch engere Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union. Es mag manche eingefleischte Atlantiker hier verwundern, weshalb ausgerechnet der Generalsekratär der NATO den Beziehungen zu einer anderen Organisation einen so prominenten Stellenwert einräumt – noch dazu einer Organisation, die ja hin und wieder als Konkurrenzunternehmen der NATO gesehen wird. Aber der Grund für meine Hervorhebung der EU ist ganz einfach: das Potential, das in einer echten strategischen Partnerschaft zwischen NATO und EU steckt, ist schlicht zu groß, um es ungenutzt zu lassen. Zusammen verfügen die NATO und die EU nämlich über ein breites Spektrum von Instrumenten – zivile und militärische. Und genau diese Kombination brauchen wir, um die neuen Herausforderungen erfolgreich anzupacken. Eine Partnerschaft zwischen NATO und EU, die Duplizierungen vermeidet und stattdessen auf Komplementarität setzt, ist daher in unser aller Interesse. Die bevorstehende Übernahme der Friedensmission in Bosnien durch die EU ist ein wichtiges Element dieser neuen Partnerschaft. Aber wir brauchen mehr – viel mehr. Wir brauchen eine koordinierte Politik im Umgang mit dem Terrorismus. Wir brauchen einen koordinierten Ansatz zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Und wir brauchen eine koordinierte Politik im Umgang mit den geopolitischen Schlüsselregionen dieser Welt. Die strategische Zusammenarbeit von NATO und EU muss sich wiederum in eine Kooperation aller wichtigen internationalen Organisationen einfügen. Die Vereinten Nationen, die ich diese Woche ebenfalls besuchen werde, spielen dabei eine Schlüsselrolle. Verschiedene internationale Organisationen haben verschiedene komparative Vorteile, sie müssen Hand in Hand arbeiten, um Frieden und Stabilität zu sichern. Nehmen Sie die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan als Beispiel: Die Vereinten Nationen haben sie organisiert, die NATO hat sie militärisch gesichert. Ohne engste Zusammenarbeit von NATO und UNO wären sie vielleicht nicht so erfolgreich gewesen. Und dies bringt mich zur Realität Nummer Vier: Aufgeklärter Atlantizismus heißt auch, die Zukunft des sogennanten „erweiterten Nahen Ostens“ – des „Broader Middle East“ – als transatlantische Gestaltungsaufgabe zu verstehen. Die Entwicklung keiner anderen Region wird unsere Sicherheit in den kommenden Jahren stärker prägen als die des “Broader Middle East”. Was diese Region daher möglich rasch braucht sind neue gemeinsame Ideen und Initiativen. Was sie nicht braucht, sind intellektuelle Grabenkämpfe. Diese Debatten sollten wir schleunigst hinter uns lassen. Die NATO hat sich auch hier zu ihrer Verantwortung bekannt. Wir werden unseren Dialog mit den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens vertiefen. Und wir stehen in Gesprächen mit einigen Staaten der Golfregion über konkrete Zusammenarbeit. Vor allem aber: wir haben damit begonnen, irakische Sicherheitskräfte ausbilden – im Irak und außerhalb des Landes. Diese Entscheidung ist manchem nicht leichtgefallen. Aber wie auch immer man zum Irak-Krieg gestanden hat: ein stabiler, demokratischer Irak kann nur das gemeinsame Ziel von uns allen sein. Je früher die Iraker ihre Sicherheit selbst organisieren können, desto besser. Deshalb sind wir dem ausdrücklichen Wunsch der irakischen Übergangsregierung nachgekommen, diese Aufgabe zu übernehmen. Weil wir nach vorne blicken, nicht zurück. Der Balkan, Afghanistan, und nun auch Irak – daß die transatlantische Gemeinschaft eine Handlungsgemeinschaft ist, hat sie damit wohl hinlänglich bewiesen. Aber können wir auch miteinander reden? Lassen Sie mich daher schließen mit einer weiteren Realität, ohne die ein aufgeklärter Atlantizismus nicht wirklich denkbar ist: die Notwendigkeit einer “Streitkultur” im Bündnis. Hand aufs Herz: Kontroversen innerhalb der EU oder der UNO werden oft als normal angesehen. Ganz anders dagegen die NATO: hier gelten Debatten noch immer als Zeichen des nahen Untergangs. Diese Sichtweise ist ein ein Reflex aus dem Kalten Krieg. Damals mußte die NATO Einigkeit um jeden Preis demonstrieren. Aber kann das Vermeiden von Debatten auch heute noch unser oberstes Ziel sein? Für mich jedenfalls hat sich diese Einstellung überholt. In einer Zeit der großen sicherheitspolitischen Umbrüche gibt es keine Patentlösungen. Wir müssen immer wieder um den richtigen Weg ringen. Vor allem aber: Nur eine Allianz, die kritischen Fragen nicht ausweicht, kann auch eine größere politische Rolle spielen. Und diese größere politische Rolle mahne ich hier ausdrücklich an. Die NATO darf sich nicht mit der Funktion des Truppenstellers zufriedengeben. Wenn diese Allianz in einer Krisenregion militärische Präsenz zeigt, dann schafft sie damit die Voraussetzung für einen politischen Prozeß. Wir haben ein Interesse am Erfolg dieses politischen Prozesses. Denn er entscheidet letztlich darüber, ob und wann wir unsere Präsenz in der Region beenden können. Daher sollten wir unsere politischen Interessen klar formulieren und offensiv vertreten. Tun wir dies nämlich nicht, dann würde die Allianz am Ende zum bloßen militärischen Dienstleistungsunternehmen. Sie würde Exekutivorgan von Beschlüssen, die anderswo gefaßt werden. Und das kann nicht im Sinne einer umfassenden transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft sein. Deshalb müssen wir die Fähigkeit zur Debatte als Chance begreifen – als Chance für eine politischere NATO, und zugleich als Chance für einen neuen, aufgeklärten Atlantizismus. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Die Partnerschaft zwischen Europa und Amerika bleibt auch im 21. Jahrhundert von einer besonderen Qualität. Nie zuvor hat es zwischen zwei Kontinenten ein so enges Geflecht von politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen gegeben. Und nirgendwo sonst auf der Welt finden sich Partner, die wie Nordamerika und Europa ähnliche Wertvorstellungen teilen. Aber machen wir uns nichts vor: die Parameter dieser Zusammenarbeit ändern sich. In einer Zeit der globalen Herausforderungen bieten die eingespielten Rituale der Vergangenheit keine Perspektive mehr. Wir brauchen ein neues Verständnis von Sicherheit, neue militärische Fähigkeiten, und neue Ansätze der Zusammenarbeit mit anderen Regionen und Organisationen. Und wir brauchen mehr Mut zur Diskussion. Dies sind für mich die Voraussetzungen für einen neuen, aufgeklärten Atlantizismus in der Sicherheitspolitik. Und sie spiegeln sich bereits heute in der Agenda des Bündnisses umfassend wieder. Die Kassandras, davon bin ich überzeugt, werden wieder falsch liegen. Die transatlantische Scheidung fällt aus. Und das ist gut so. Ich danke Ihnen. |