Updated: 07-Oct-2004 | NATO Speeches |
Berlin 7 Oct. 2004 |
Die Zukunft der Atlantischen Allianz Speech by NATO Secretary General, Jaap de Hoop Scheffer at the Manfred Wörner Lecture, Konrad-Adenauer-Stiftung Verehrte Frau Wörner, Es ist mir eine große Ehre, diesen Vortrag zu Ehren von Manfred Wörner halten zu dürfen. Im Gegensatz zu den meisten hier Anwesenden habe ich Manfred Wörner leider nicht persönlich gekannt. Aber wenn man NATO-Generalsekretär wird, dann lernt man Manfred Wörner auf vielerlei Weise kennen. Denn kaum ein anderer Generalsekretär hat dieses Bündnis so geprägt wie der stets optimistische Manfred Wörner. Und je mehr ich über ihn erfahren habe, umso mehr wünschte ich mir, ich hätte ihn persönlich gekannt. Manfred Wörner hat die NATO aus dem Kalten Krieg herausgeführt. Von der Friedenserhaltung zur Friedensgestaltung – so hat er kurz und prägnant die Reform der NATO beschrieben. Und er hat durch seinen unermüdlichen persönlichen Einsatz nie den geringsten Zweifel daran gelassen, daß die NATO auch ohne die sowjetischen Bedrohung eine Zukunft haben würde. Denn für ihn war die NATO nicht nur ein Bündnis gegen andere – für Manfred Wörner war die NATO auch und vor allem eine Wertegemeinschaft. Und heute? Befinden wir uns heute nicht in einer ähnlichen Situation wie Manfred Wörner damals? Sind wir heute nicht auch mit einem neuen Sicherheitsumfeld konfrontiert, auf das wir nur unzureichend vorbereitet sind – materiell, aber auch intellektuell? Und hören wir heute nicht genau dieselben Kassandrarufe wie damals – die NATO habe sich überlebt, weil die transatlantischen Partner von nun an getrennte Wege gingen? Haben wir das nicht alles schon mal gehört – déjà vu all over again? Manfred Wörner und der NATO ist es damals gelungen, die Schwarzseher zu widerlegen. Aber gelingt es uns auch heute? Können wir auch heute – nach „9/11“ und nach dem Irak-Krieg – überzeugend demonstrieren, daß es zur Werte- und Interessengemeinschaft NATO keine echte Alternative gibt? Meine Antwort auf diese Fragen ist ein klares und unmißverständliches „Ja“. Es gibt keine Alternative zur transatlantischen Werte- und Handlungsgemeinschaft; es gibt keinen Ersatz für das Nordatlantische Bündnis. Die großen Sicherheitsprobleme unserer Zeit sind der internationale Terrorismus, gescheiterte Staaten und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Dies sind Herausforderungen mit globalen Dimensionen. Schon allein deshalb können sie nur gelöst werden, wenn Nordamerika und Europa an einem Strang ziehen. Wenn uns die Ereignisse der jüngsten Zeit irgendetwas gelehrt haben, dann doch wohl, daß weder Amerika noch Europa alleine in der Lage sind, mit diesen neuen Problemen fertig zu werden. Amerikanisches Handeln ohne Verbündete führt ebenso in die Sackgasse wie Phantasien von einem Europa als Gegenmodell zu den USA. Man kann mit solchen Gedankenspielen vielleicht Bücher verkaufen. Erfolgreiche Sicherheitspolitik aber macht man damit nicht. Erfolgreiche Sicherheitspolitik sieht anders aus. Sie gründet nicht auf Wunschvorstellungen, sondern auf Realitäten. Und diese Realitäten sprechen eine deutliche Sprache. Die erste und entscheidende Realität betrifft unser Verständnis von Sicherheit und von Sicherheitspolitik. Sicherheitsvorsorge heute heißt Projektion von Stabilität – auch und gerade in Regionen, die außerhalb Europas liegen. Eine Sicherheitspolitik, die sich auf den europäischen Kontinent beschränkt, reicht im Zeitalter globaler Bedrohungen nicht mehr aus. Entweder, wir begegnen den Problemen dort, wo sie entstehen, oder diese Probleme kommen früher oder später zu uns. Die Zeit, als man noch zwischen „nahen“ und „fernen“ Bedrohungen unterscheiden konnte, ist unwiderbringlich vorbei. Die NATO hat die Konsequenzen aus dieser neuen Realität gezogen. Mit unserem Einsatz in Afghanistan haben wir klar gemacht, daß dieses Bündnis kein rein „eurozentrisches“ Bündnis mehr ist, sondern ein Instrument, das wir überall dort einsetzen können, wo unsere gemeinsamen Interessen es erfordern. Das ist vielleicht die größte Veränderung der NATO seit ihrer Gründung vor 55 Jahren. Und wer sich daran erinnert, wie mühsam und frustrierend es noch vor nicht allzu langer Zeit für Manfred Wörner gewesen ist, die NATO dazu zu bewegen, sich auf dem Balkan zu engagieren, der kann ermessen, wie radikal der Wandel ist, den dieses Bündnis in nur wenigen Jahren vollzogen hat. Aber geben wir uns keinen Illusionen hin. Diese neuen Aufgaben außerhalb Europas sind noch schwieriger und gefährlicher als das, was wir bereits auf dem Balkan gesehen haben. Es überrascht mich daher auch nicht, wenn sich unsere Öffentlichkeit noch schwer tut bei dem Gedanken, daß Einsätze wie der in Afghanistan künftig nicht die Ausnahme sein könnten, sondern vielleicht die Regel. Wir schulden unserer Öffentlichkeit daher ein klares Wort. Lassen Sie mich deshalb hier in aller Deutlichkeit sagen: Deutsche Soldaten, zusammen mit anderen NATO-Partnern, sind heute am Hindukusch, weil es in unser aller Interesse liegt, zu verhindern, daß Afghanistan erneut ein „schwarzes Loch“ wird – ein Staat geführt von einem fundamentalistischen Regime, das den gefährlichsten Terroristen der Welt Unterschlupf gewährt und Ausbildungslager zur Verfügung stellt. So etwas darf nicht mehr passieren. Und die NATO, gemeinsam mit Deutschland, wird ihren Teil dazu beitragen, daß es nicht mehr passieren wird. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, daß der Bundestag den deutschen Einsatz in Afghanistan um ein Jahr verlängert hat. Aber lassen Sie mich auch offen sein und hinzufügen: die manchmal etwas kleinliche Kritik an den Friedenseinsätzen der Bundeswehr finde ich ausgesprochen irritierend. Nirgendwo im Bündnis werden zum Beispiel die deutschen regionalen Wiederaufbauteams in Frage gestellt. Im Gegenteil: Alle sind sich einig, dass wir mehr regionale Wiederaufbauteams brauchen. Deshalb: keine Angst vor der eigenen Courage! Damit komme ich zur zweiten Realität moderner Sicherheitspolitik: die Notwendigkeit neuer militärischer Fähigkeiten. Kein Staat kann es sich heute noch erlauben, Streitkräfte zu unterhalten, die alleine der Territorialverteidigung dienen. Wir brauchen heute Streitkräfte, die schnell reagieren und über große Entfernungen hinweg zum Einsatz gebracht werden können. Wir brauchen Soldaten, die für die neuen Aufgaben ausgebildet und ausgerüstet sind. Und wir brauchen Streitkräftestrukturen, die so beschaffen sind, daß mehr Soldaten für Auslandsmissionen bereitgestellt werden können. Die NATO hat auch hier die richtigen Konsequenzen gezogen. Wir haben die NATO Response Force aufgestellt. Wir sind dabei, die strategischen Transportfähigkeiten zu verbessern. Wir reformieren unsere Streitkräfteplanung, um sicherzustellen, daß unsere politischen Entscheidungen auch militärisch unterfüttert werden können. Und wir haben ein Strategisches Oberkommando aufgebaut, das sich auschließlich mit der Transformation der Streitkräfte befaßt. Denn für uns ist „Transformation“ keine leere Worthülse, sondern eine Grundbedingung für das Funktionieren dieser Allianz auch in einem radikal veränderten Sicherheitsumfeld. Auch die Bundeswehr hat sich der Herausforderung der Transformation gestellt. Sie hat sich umfassenden Reformen verschrieben. Diese Reformen sind langwierig und teuer. Und sie sind umso schwieriger, je mehr sie vor dem Hintergrund bereits laufender Operationen erfolgen müssen. Aber ungeachtet aller Schwierigkeiten müssen diese Reformen vorangetrieben werden. Und sie müssen mit einem angemessenen Verteidigungshaushalt unterfüttert werden. Deutschland ist schlicht zu groß, um sich mit dem Umbau seiner Streitkräfte Zeit lassen zu können. Die dritte Realität moderner Sicherheitspolitik betrifft die Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union. Es mag manche eingefleischte Atlantiker hier verwundern, weshalb ausgerechnet der Generalsekratär der NATO den Beziehungen zu einer anderen Organisation einen so prominenten Stellenwert einräumt – noch dazu einer Organisation, die ja hin und wieder als Konkurrenzunternehmen der NATO gesehen wird. Aber der Grund für meine Hervorhebung der EU ist ganz einfach: das Potential, das in einer echten strategischen Partnerschaft zwischen NATO und EU steckt, ist schlicht zu groß, um es ungenutzt zu lassen. Zusammen verfügen die NATO und die EU nämlich über ein breites Spektrum von Instrumenten – zivile und militärische. Und genau diese Kombination brauchen wir, um die neuen Herausforderungen erfolgreich anzugehen. Nun bin ich der erste, der einräumt, daß die NATO-EU Beziehungen besser sein könnten als sie es gegenwärtig sind. Aber was nicht ist, kann bekanntlich noch werden. Die Zeit der institutionellen Grabenkämpfe ist vorbei. Die Notwendigkeit einer sicherheitspolitische Rolle der EU kann heute niemand mehr bestreiten. Eine handlungsfähige EU muß als normaler Bestandteil der transatlantischen Beziehungen verstanden werden, und nicht als Störfaktor. Und selbst dann, wenn die Rhetorik der EU manchmal etwas zu vollmundig klingen mag – die NATO kann dies mit Gelassenheit hinnehmen. Denn die NATO bleibt einzigartig – nur sie hat die Vereinigten Staaten an Bord. Und eine stabile Weltordnung ohne die USA gibt es nicht. Ich werde deshalb alles dafür tun, die strategische Partnerschaft zwischen diesen beiden großen Institutionen auszubauen. Die bevorstehende Übernahme der Friedensmission in Bosnien durch die EU ist nur ein Element dieser neuen Partnerschaft. Wir brauchen mehr: eine koordinierte Politik im Umgang mit dem Terrorismus, einen koordinierten Ansatz zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Und wir brauchen eine koordinierte Politik im Umgang mit den geopolitischen Schlüsselregionen dieser Welt. Eine solche Region ist der sogennante „erweiterte Nahe Osten“ – der sogennante „Broader Middle East“. Die Entwicklungen in dieser Region werden unsere Sicherheit in den kommenden Jahren maßgeblich prägen. Sich dieser Region mit neuen Ideen und neuen Initiativen zu nähern – die Zukunft des „Broader Middle East“ als transatlantische Gestaltungsaufgabe zu verstehen – das ist eine weitere Realität moderner Sicherheitspolitik. Auch hier wird sich die NATO nicht aus ihrer Verantwortung stehlen. Wir werden unseren Dialog mit den südlichen Mittelmeeranrainern vertiefen. Wir stehen in Gesprächen mit einigen Staaten der Golfregion über konkrete Zusammenarbeit. Vor allem aber: wir werden irakische Sicherheitskräfte ausbilden – im Irak und außerhalb des Landes. Diese Entscheidung ist manchem nicht leichtgefallen. Aber wie auch immer man zum Irak-Krieg gestanden hat: ein stabiler, demokratischer Irak ist das gemeinsame Ziel von uns allen. Je früher die Iraker ihre Sicherheit selbst organisieren können, desto besser. Deshalb sind wir dem Wunsch der irakischen Übergangsregierung nachgekommen, diese Aufgabe zu übernehmen. Weil wir nach vorne blicken, nicht zurück. Meine Damen und Herren, Die Agenda der NATO orientiert sich an den Realitäten des 21. Jahrhunderts. Es ist eine Agenda des Handelns, des Zupackens, des Gestaltens. Wenn heute die Vereinten Nationen bei der NATO um mögliche Unterstützung für die Afrikanische Union vorsondieren; oder wenn heute NATO- und UN-Experten gemeinsam über Streitkräfteplanung nachdenken, dann erst wird deutlich, welche Schlüsselrolle der NATO heute zukommt. Nirgendwo sonst können sich Multilateralismus und Effektivität so wirkungsvoll vereinen wie hier in dieser Allianz. Aber wir können und müssen noch mehr tun. Daß diese Allianz gemeinsam handeln kann, das haben wir zur Genüge bewiesen. Aber sollten wir nicht auch mehr miteinander reden? Manchmal hat man jedenfalls den Eindruck, daß wir die Allianz nicht genügend als politischen Rahmen – als politisches Konsultationsforum – nutzen. Als hätten wir Angst vor unterschiedlichen Meinungen. Ich behaupte dagegen, frühzeitige politische Konsultation im Bündnis ist der Schlüssel zu wirksamen und glaubhaften Kriseneinsätzen. Wir sollten keine Angst vor Kontroversen haben. In der EU oder in den Vereinten Nationen sind Kontroversen üblich – und jeder akzepiert sie als notwendige Voraussetzung für Fortschritt. In der NATO dagegen gelten Kontroversen als unschicklich, oder gar als gefährlich. Für mich hat sich diese Einstellung seit dem Ende des Kalten Krieges überholt. Wir brauchen auch in der NATO eine „Streitkultur“. In einer Zeit der großen sicherheitspolitischen Umbrüche gibt es keine Patentlösungen. Wir müssen immer wieder um den richtigen Weg ringen – und dies geht nur, wenn wir die NATO als Diskussionsforum stärken. In den kommenden Monaten werde ich einige Vorschläge hierzu auf den Tisch legen. Denn diese Allianz kann noch weitaus mehr, als wir glauben. Manfred Wörner hat diese Allianz auf den Weg gebracht. Er hat deshalb so viel erreicht, weil er tief davon überzeugt war, daß Frieden und Freiheit nur durch transatlantische Gemeinsamkeit gesichert werden können. Und weil er dort, wo andere nur Risiken sahen, immer auch die Chancen sah. Die NATO – und wir alle – verdanken ihm unendlich viel. |